Viktor sargte sich so zu sagen an jenem Tage in sein Zimmer ein, das er niemand als einer Thür- und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, öfne¬ te, deren Gestalt ihm so sanft wie eine Abendsonne that. Jedes andre weibliche Gesicht auf der Straße gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬ tilde, den er am Fenster sah und heute gern umarmt hätte, gab der müden Erinnerung neue Thränen zu Farben. . . . Leser! -- die Leserin ist von selber ge¬ scheuter -- lache nicht über meinen guten Helden, der da keiner ist, wo gerade die Stärke der Seele die Stärke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬ stens nicht hören. Wem der sympathetische Nerve des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchschnitt¬ ten ist, der darf schon einmal seufzen und sagen: alles kann der Mensch auf der Erde geduldiger ver¬ lieren als Menschen. -- --
Und doch führte Abends ein Zufall -- nämlich ein Brief -- alle seine Schmerzen noch einmal durch sein müdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel -- aber keine Antwort auf den erst abgesandten -- kam an.
"Mein immer Geliebter,
"Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues Lebens-Gewühl erfahren und ich habe gesagt: mein Geliebter bleibe glücklich -- die Ruhe der Tugend
Viktor ſargte ſich ſo zu ſagen an jenem Tage in ſein Zimmer ein, das er niemand als einer Thuͤr- und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, oͤfne¬ te, deren Geſtalt ihm ſo ſanft wie eine Abendſonne that. Jedes andre weibliche Geſicht auf der Straße gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬ tilde, den er am Fenſter ſah und heute gern umarmt haͤtte, gab der muͤden Erinnerung neue Thraͤnen zu Farben. . . . Leſer! — die Leſerin iſt von ſelber ge¬ ſcheuter — lache nicht uͤber meinen guten Helden, der da keiner iſt, wo gerade die Staͤrke der Seele die Staͤrke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬ ſtens nicht hoͤren. Wem der ſympathetiſche Nerve des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchſchnitt¬ ten iſt, der darf ſchon einmal ſeufzen und ſagen: alles kann der Menſch auf der Erde geduldiger ver¬ lieren als Menſchen. — —
Und doch fuͤhrte Abends ein Zufall — naͤmlich ein Brief — alle ſeine Schmerzen noch einmal durch ſein muͤdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel — aber keine Antwort auf den erſt abgeſandten — kam an.
»Mein immer Geliebter,
»Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues Lebens-Gewuͤhl erfahren und ich habe geſagt: mein Geliebter bleibe gluͤcklich — die Ruhe der Tugend
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Viktor ſargte ſich ſo zu ſagen an jenem Tage in
ſein Zimmer ein, das er niemand als einer Thuͤr-
und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, oͤfne¬
te, deren Geſtalt ihm ſo ſanft wie eine Abendſonne
that. Jedes andre weibliche Geſicht auf der Straße
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬
tilde, den er am Fenſter ſah und heute gern umarmt
haͤtte, gab der muͤden Erinnerung neue Thraͤnen zu
Farben. . . . Leſer! — die Leſerin iſt von ſelber ge¬
ſcheuter — lache nicht uͤber meinen guten Helden,
der da keiner iſt, wo gerade die Staͤrke der Seele
die Staͤrke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬
ſtens nicht hoͤren. Wem der ſympathetiſche Nerve
des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchſchnitt¬
ten iſt, der darf ſchon einmal ſeufzen und ſagen:
alles kann der Menſch auf der Erde geduldiger ver¬
lieren als Menſchen. — —
Und doch fuͤhrte Abends ein Zufall — naͤmlich
ein Brief — alle ſeine Schmerzen noch einmal durch
ſein muͤdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel
— aber keine Antwort auf den erſt abgeſandten —
kam an.
»Mein immer Geliebter,
»Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues
Lebens-Gewuͤhl erfahren und ich habe geſagt: mein
Geliebter bleibe gluͤcklich — die Ruhe der Tugend
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/116>, abgerufen am 27.11.2024.
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