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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

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sage mir, wenn die Sonne nieder ist und lies mir
noch einmal den Brief des Engels vor!"

Viktor fing an: "Klotilde!" -- "An wen ist
"er?" sagt' er. -- "An mich! (sagte Julius) und
"Klotilde hat mir ihn schon vorgelesen; aber ich
"konnte sie wegen ihrem Weinen nicht verstehen und
"ich war auch zu betrübt. -- Ich werde vor Kum¬
"mer sterben, du gute Giulia, warum hast du mir
"es nicht vor deinem Tode gesagt. -- Die Todte
"hat ihn geschrieben, lies nur!" -- Er las:

Klotilde!

"Ich hülle meine erröthenden Wangen in den
Leichenschleier. Mein Geheimniß ruht in meinem
Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Lei¬
chenstein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es
aus dem zerfallenen Herzen dringen -- o dann bleib'
es ewig in deinem, Klotilde! -- und ewig in deinem,
Julius! -- Julius, war nicht oft eine schweigende
Gestalt um dich, die sich deinen Engel nannte?
Legte sie nicht einmal als die Todtenglocke ein blü¬
hendes Mädgen einläutete, eine weisse Hyazinthe in
die Hand und sagte: Engel pflücken solche weisse
Blumen? Nahm nicht einmal eine stumme Gestalt deine
Hand und trocknete sich damit ihre Thränen ab und
konnt' es nicht sagen, warum sie weine? Sagte nicht
einmal eine leise Stimme: lebe wohl, ich werde dir

ſage mir, wenn die Sonne nieder iſt und lies mir
noch einmal den Brief des Engels vor!»

Viktor fing an: »Klotilde!» — »An wen iſt
»er?» ſagt' er. — »An mich! (ſagte Julius) und
»Klotilde hat mir ihn ſchon vorgeleſen; aber ich
»konnte ſie wegen ihrem Weinen nicht verſtehen und
»ich war auch zu betruͤbt. — Ich werde vor Kum¬
»mer ſterben, du gute Giulia, warum haſt du mir
»es nicht vor deinem Tode geſagt. — Die Todte
»hat ihn geſchrieben, lies nur!» — Er las:

Klotilde!

»Ich huͤlle meine erroͤthenden Wangen in den
Leichenſchleier. Mein Geheimniß ruht in meinem
Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Lei¬
chenſtein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es
aus dem zerfallenen Herzen dringen — o dann bleib'
es ewig in deinem, Klotilde! — und ewig in deinem,
Julius! — Julius, war nicht oft eine ſchweigende
Geſtalt um dich, die ſich deinen Engel nannte?
Legte ſie nicht einmal als die Todtenglocke ein bluͤ¬
hendes Maͤdgen einlaͤutete, eine weiſſe Hyazinthe in
die Hand und ſagte: Engel pfluͤcken ſolche weiſſe
Blumen? Nahm nicht einmal eine ſtumme Geſtalt deine
Hand und trocknete ſich damit ihre Thraͤnen ab und
konnt' es nicht ſagen, warum ſie weine? Sagte nicht
einmal eine leiſe Stimme: lebe wohl, ich werde dir

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[204/0214] ſage mir, wenn die Sonne nieder iſt und lies mir noch einmal den Brief des Engels vor!» Viktor fing an: »Klotilde!» — »An wen iſt »er?» ſagt' er. — »An mich! (ſagte Julius) und »Klotilde hat mir ihn ſchon vorgeleſen; aber ich »konnte ſie wegen ihrem Weinen nicht verſtehen und »ich war auch zu betruͤbt. — Ich werde vor Kum¬ »mer ſterben, du gute Giulia, warum haſt du mir »es nicht vor deinem Tode geſagt. — Die Todte »hat ihn geſchrieben, lies nur!» — Er las: Klotilde! »Ich huͤlle meine erroͤthenden Wangen in den Leichenſchleier. Mein Geheimniß ruht in meinem Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Lei¬ chenſtein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es aus dem zerfallenen Herzen dringen — o dann bleib' es ewig in deinem, Klotilde! — und ewig in deinem, Julius! — Julius, war nicht oft eine ſchweigende Geſtalt um dich, die ſich deinen Engel nannte? Legte ſie nicht einmal als die Todtenglocke ein bluͤ¬ hendes Maͤdgen einlaͤutete, eine weiſſe Hyazinthe in die Hand und ſagte: Engel pfluͤcken ſolche weiſſe Blumen? Nahm nicht einmal eine ſtumme Geſtalt deine Hand und trocknete ſich damit ihre Thraͤnen ab und konnt' es nicht ſagen, warum ſie weine? Sagte nicht einmal eine leiſe Stimme: lebe wohl, ich werde dir

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/214>, abgerufen am 23.11.2024.