Die Nerven-Enden blättern sich ausgebildet, auf der Retina, auf der Schneiderischen Haut, in der Geschmacksknospe etc. zu Blüten auf. Daher wird z. B. nicht mit dem Fortsatze des Sehenervens ge¬ sehen, sondern mit seiner zarten Staubfäden-Zerfa¬ serung: denn die große wankende Gemäldegallerie auf der Netzhaut kann unmöglich durch eine Bewe¬ gung des Nervengeists (oder was man nehmen will: denn auf Bewegung läuft es doch hinaus) sich zurück¬ schieben in's Gehirn, wobei noch dazu die zwei Gal¬ lerien der zwei Augen durch die zwei Zinken des Sehenervens durchrücken und in dessen Stiel zu Ei¬ nem Gemälde zusammenfallen müßten.
Folglich muß das Bild im Auge etc. wenn es zu etwas dienen soll, vorn an der Spitze des Nervens empfunden werden -- mit Einem Wort, es ist noch närrischer die Seele in den Zwinger der vierten Gehirnkammer d. h. in einen Porus dieses Knollen¬ gewächses zu sperren als es wäre, wenn einer, der wie ich ein beseelendes Ich in die Blume setzt, das¬ selbe in's Souterrain des dumpfen Kerns heftete. Lieber wollt' ich die Seele doch in das feinste Honig¬ gefäß der Sinnen, in die Augen verlegen als in's unempfindlichere Gehirn, wenn ich nicht überhaupt glaubte, daß sie wie eine Hamadryade jedes Nerven¬ ästgen dieser Thierpflanze bewohne und wärme und rege. Der unterbundne oder durchschnittne Nerve
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Die Nerven-Enden blaͤttern ſich ausgebildet, auf der Retina, auf der Schneideriſchen Haut, in der Geſchmacksknoſpe ꝛc. zu Bluͤten auf. Daher wird z. B. nicht mit dem Fortſatze des Sehenervens ge¬ ſehen, ſondern mit ſeiner zarten Staubfaͤden-Zerfa¬ ſerung: denn die große wankende Gemaͤldegallerie auf der Netzhaut kann unmoͤglich durch eine Bewe¬ gung des Nervengeiſts (oder was man nehmen will: denn auf Bewegung laͤuft es doch hinaus) ſich zuruͤck¬ ſchieben in's Gehirn, wobei noch dazu die zwei Gal¬ lerien der zwei Augen durch die zwei Zinken des Sehenervens durchruͤcken und in deſſen Stiel zu Ei¬ nem Gemaͤlde zuſammenfallen muͤßten.
Folglich muß das Bild im Auge ꝛc. wenn es zu etwas dienen ſoll, vorn an der Spitze des Nervens empfunden werden — mit Einem Wort, es iſt noch naͤrriſcher die Seele in den Zwinger der vierten Gehirnkammer d. h. in einen Porus dieſes Knollen¬ gewaͤchſes zu ſperren als es waͤre, wenn einer, der wie ich ein beſeelendes Ich in die Blume ſetzt, daſ¬ ſelbe in's Souterrain des dumpfen Kerns heftete. Lieber wollt' ich die Seele doch in das feinſte Honig¬ gefaͤß der Sinnen, in die Augen verlegen als in's unempfindlichere Gehirn, wenn ich nicht uͤberhaupt glaubte, daß ſie wie eine Hamadryade jedes Nerven¬ aͤſtgen dieſer Thierpflanze bewohne und waͤrme und rege. Der unterbundne oder durchſchnittne Nerve
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Die Nerven-Enden blaͤttern ſich ausgebildet, auf
der Retina, auf der Schneideriſchen Haut, in der
Geſchmacksknoſpe ꝛc. zu Bluͤten auf. Daher wird
z. B. nicht mit dem Fortſatze des Sehenervens ge¬
ſehen, ſondern mit ſeiner zarten Staubfaͤden-Zerfa¬
ſerung: denn die große wankende Gemaͤldegallerie
auf der Netzhaut kann unmoͤglich durch eine Bewe¬
gung des Nervengeiſts (oder was man nehmen will:
denn auf Bewegung laͤuft es doch hinaus) ſich zuruͤck¬
ſchieben in's Gehirn, wobei noch dazu die zwei Gal¬
lerien der zwei Augen durch die zwei Zinken des
Sehenervens durchruͤcken und in deſſen Stiel zu Ei¬
nem Gemaͤlde zuſammenfallen muͤßten.
Folglich muß das Bild im Auge ꝛc. wenn es zu
etwas dienen ſoll, vorn an der Spitze des Nervens
empfunden werden — mit Einem Wort, es iſt noch
naͤrriſcher die Seele in den Zwinger der vierten
Gehirnkammer d. h. in einen Porus dieſes Knollen¬
gewaͤchſes zu ſperren als es waͤre, wenn einer, der
wie ich ein beſeelendes Ich in die Blume ſetzt, daſ¬
ſelbe in's Souterrain des dumpfen Kerns heftete.
Lieber wollt' ich die Seele doch in das feinſte Honig¬
gefaͤß der Sinnen, in die Augen verlegen als in's
unempfindlichere Gehirn, wenn ich nicht uͤberhaupt
glaubte, daß ſie wie eine Hamadryade jedes Nerven¬
aͤſtgen dieſer Thierpflanze bewohne und waͤrme und
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/237>, abgerufen am 23.11.2024.
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