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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

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Abends das Kind dahin, das er am meisten liebte *)
und das, wenn er auf der Säule betete, mit dem
einen Arm um den Baum geschlungen, sehnsüchtig
und singend über die weite Gegend hinüber blickte
und sich hinauslehnte und ohne es zu wissen in sü¬
ßer Beklommenheit über die eignen Töne und die
entlegnen Gefilde weinte und über das blasse Mor¬
genroth, das von der Abendröthe zurückglimmte.
Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum bist
du so still und singest nicht mehr? -- gab es zur
Antwort: "ach ich sehne mich in die Morgenröthe, ich
"möchte darin liegen und dadurch gehen und in die
"hellen Länder dahinter hineinschauen." -- Ich
setze mich oft unter jenen Baum und lehne den
Kopf an ihn und verfolge stumm die Entfernung bis
an den Horizont, der vor Deutschland steht, und
niemand stört mein Weinen und mein stilles Beten.

Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬
gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein
verwaistes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutsch¬
land zurück zum besten Freunde der
treuesten Freunde.
Cl.


O du gute Seele! -- --

*) Sie weiß es wol, daß es Viktor war.

Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte *)
und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem
einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig
und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte
und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬
ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die
entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬
genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte.
Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt
du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? — gab es zur
Antwort: »ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich
»moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die
»hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen.» — Ich
ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den
Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis
an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und
niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten.

Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬
gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein
verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬
land zuruͤck zum beſten Freunde der
treueſten Freunde.
Cl.


O du gute Seele! — —

*) Sie weiß es wol, daß es Viktor war.
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[349/0359] Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte *) und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬ ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬ genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte. Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? — gab es zur Antwort: »ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich »moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die »hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen.» — Ich ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten. Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬ gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬ land zuruͤck zum beſten Freunde der treueſten Freunde. Cl. O du gute Seele! — — *) Sie weiß es wol, daß es Viktor war.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/359>, abgerufen am 23.11.2024.