de! -- Zuweilen wankte ein Vorhang, aber keiner ging auf. -- Auf einmal wecken die Vogelkehlen eine Zauberflöte an dem Fuße seines Berges und der stille Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchte¬ te, mit seinen Morgentönen entgegen. Da entschlei¬ erte sich plötzlich Klotildens Fenster und ihre schönen hellen Augen nahmen den erfrischten Morgen in die wache fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfer¬ nung ungeachtet, von Gesträuch hinter Gesträuch; aber die Flucht vor den geliebten Augen führte ihn der Flöte näher: er wollte jedoch eben so wenig vor Emanuel, den er in der Nachbarschaft des Blinden glaubte, erscheinen als vor Klotilden. Da ihn nur noch einige Gebüsche von den Tönen schieden: sah er auf dem Berge seinen großen Freund unter der Trauerbirke. Nun eilt' er froh und zitternd zu sei¬ nem Julius herab und fand ihn mit dem Lilienange¬ sicht, schön wie den jüngern Bruder eines Engels, umflogen und umsungen von Vögeln, an einer Birke lehnen: "welche Gestalten, welche Herzen, dacht' er, schmücken dieses Paradies." Wie hätt' er sich an einem solchen großen Morgen, an einem so heiligen Orte, gegen einen so guten Jüngling verstellen und ihm etwan mit der nachgemachten Stimme seines italienischen Bedienten den Brief an Emanuel über¬ geben können! -- Nein, das konnt' er nicht; er sagte mit leiser Stimme, um ihn nicht zu erschrecken: lie¬
de! — Zuweilen wankte ein Vorhang, aber keiner ging auf. — Auf einmal wecken die Vogelkehlen eine Zauberfloͤte an dem Fuße ſeines Berges und der ſtille Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchte¬ te, mit ſeinen Morgentoͤnen entgegen. Da entſchlei¬ erte ſich ploͤtzlich Klotildens Fenſter und ihre ſchoͤnen hellen Augen nahmen den erfriſchten Morgen in die wache fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfer¬ nung ungeachtet, von Geſtraͤuch hinter Geſtraͤuch; aber die Flucht vor den geliebten Augen fuͤhrte ihn der Floͤte naͤher: er wollte jedoch eben ſo wenig vor Emanuel, den er in der Nachbarſchaft des Blinden glaubte, erſcheinen als vor Klotilden. Da ihn nur noch einige Gebuͤſche von den Toͤnen ſchieden: ſah er auf dem Berge ſeinen großen Freund unter der Trauerbirke. Nun eilt' er froh und zitternd zu ſei¬ nem Julius herab und fand ihn mit dem Lilienange¬ ſicht, ſchoͤn wie den juͤngern Bruder eines Engels, umflogen und umſungen von Voͤgeln, an einer Birke lehnen: »welche Geſtalten, welche Herzen, dacht' er, ſchmuͤcken dieſes Paradies.« Wie haͤtt' er ſich an einem ſolchen großen Morgen, an einem ſo heiligen Orte, gegen einen ſo guten Juͤngling verſtellen und ihm etwan mit der nachgemachten Stimme ſeines italieniſchen Bedienten den Brief an Emanuel uͤber¬ geben koͤnnen! — Nein, das konnt' er nicht; er ſagte mit leiſer Stimme, um ihn nicht zu erſchrecken: lie¬
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de! — Zuweilen wankte ein Vorhang, aber keiner
ging auf. — Auf einmal wecken die Vogelkehlen eine
Zauberfloͤte an dem Fuße ſeines Berges und der ſtille
Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchte¬
te, mit ſeinen Morgentoͤnen entgegen. Da entſchlei¬
erte ſich ploͤtzlich Klotildens Fenſter und ihre ſchoͤnen
hellen Augen nahmen den erfriſchten Morgen in die
wache fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfer¬
nung ungeachtet, von Geſtraͤuch hinter Geſtraͤuch;
aber die Flucht vor den geliebten Augen fuͤhrte ihn
der Floͤte naͤher: er wollte jedoch eben ſo wenig vor
Emanuel, den er in der Nachbarſchaft des Blinden
glaubte, erſcheinen als vor Klotilden. Da ihn nur
noch einige Gebuͤſche von den Toͤnen ſchieden: ſah
er auf dem Berge ſeinen großen Freund unter der
Trauerbirke. Nun eilt' er froh und zitternd zu ſei¬
nem Julius herab und fand ihn mit dem Lilienange¬
ſicht, ſchoͤn wie den juͤngern Bruder eines Engels,
umflogen und umſungen von Voͤgeln, an einer Birke
lehnen: »welche Geſtalten, welche Herzen, dacht' er,
ſchmuͤcken dieſes Paradies.« Wie haͤtt' er ſich an
einem ſolchen großen Morgen, an einem ſo heiligen
Orte, gegen einen ſo guten Juͤngling verſtellen und
ihm etwan mit der nachgemachten Stimme ſeines
italieniſchen Bedienten den Brief an Emanuel uͤber¬
geben koͤnnen! — Nein, das konnt' er nicht; er ſagte
mit leiſer Stimme, um ihn nicht zu erſchrecken: lie¬
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/78>, abgerufen am 25.11.2024.
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