Lehre, die hypochondrische Berechnung über die Einbusse einiger Lebensstunden bey jedem ein- zelnen kleinen Opfer für den andern durchzu- machen, -- die Tugend liefe auf Hufelands Rath länger zu leben hinaus, und man müßte Arzneykunde studieren um nicht verdammt zu werden. -- Wenn auch gleich einige Philoso- phen die Tugend wie einen Prozeß nicht gern mit der Exekution anfangen, sondern gelas- sener mit münd- und schriftlichen Verhand- lungen: so kenn' ich wieder andere, z. B. Sie und Regulus, welche wie dieser in der Wahl zwischen gewissem Tode und Meineide, doch lieber die Abkürzung ihres moralischen Spiel- raumes erwählten. Aber wozu dieß alles? Entweder ist von äußerem Erfolge die Rede -- sodann kann die Innerlichkeit (Intension) des Lebens, die Ausdehnung (Extension) des- selben so freygebig vergüten, daß eine Todes- stunde, welche Völker beseelt, und begeistert, ein kaltes thatenloses Jahrzehnd überwiegt -- oder es wird vom Heiligsten gesprochen; dann setzt die Sittlichkeit, hoff' ich nicht Vernichtung,
Lehre, die hypochondriſche Berechnung uͤber die Einbuſſe einiger Lebensſtunden bey jedem ein- zelnen kleinen Opfer fuͤr den andern durchzu- machen, — die Tugend liefe auf Hufelands Rath laͤnger zu leben hinaus, und man muͤßte Arzneykunde ſtudieren um nicht verdammt zu werden. — Wenn auch gleich einige Philoſo- phen die Tugend wie einen Prozeß nicht gern mit der Exekution anfangen, ſondern gelaſ- ſener mit muͤnd- und ſchriftlichen Verhand- lungen: ſo kenn’ ich wieder andere, z. B. Sie und Regulus, welche wie dieſer in der Wahl zwiſchen gewiſſem Tode und Meineide, doch lieber die Abkürzung ihres moraliſchen Spiel- raumes erwaͤhlten. Aber wozu dieß alles? Entweder iſt von äußerem Erfolge die Rede — ſodann kann die Innerlichkeit (Intenſion) des Lebens, die Ausdehnung (Extenſion) deſ- ſelben ſo freygebig verguͤten, daß eine Todes- ſtunde, welche Voͤlker beſeelt, und begeiſtert, ein kaltes thatenloſes Jahrzehnd uͤberwiegt — oder es wird vom Heiligſten geſprochen; dann ſetzt die Sittlichkeit, hoff’ ich nicht Vernichtung,
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Lehre, die hypochondriſche Berechnung uͤber die
Einbuſſe einiger Lebensſtunden bey jedem ein-
zelnen kleinen Opfer fuͤr den andern durchzu-
machen, — die Tugend liefe auf Hufelands
Rath laͤnger zu leben hinaus, und man muͤßte
Arzneykunde ſtudieren um nicht verdammt zu
werden. — Wenn auch gleich einige Philoſo-
phen die Tugend wie einen Prozeß nicht gern
mit der Exekution anfangen, ſondern gelaſ-
ſener mit muͤnd- und ſchriftlichen Verhand-
lungen: ſo kenn’ ich wieder andere, z. B. Sie
und Regulus, welche wie dieſer in der Wahl
zwiſchen gewiſſem Tode und Meineide, doch
lieber die Abkürzung ihres moraliſchen Spiel-
raumes erwaͤhlten. Aber wozu dieß alles?
Entweder iſt von äußerem Erfolge die Rede
— ſodann kann die Innerlichkeit (Intenſion)
des Lebens, die Ausdehnung (Extenſion) deſ-
ſelben ſo freygebig verguͤten, daß eine Todes-
ſtunde, welche Voͤlker beſeelt, und begeiſtert,
ein kaltes thatenloſes Jahrzehnd uͤberwiegt —
oder es wird vom Heiligſten geſprochen; dann
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Jean Paul: D. Katzenbergers Badereise. Bd. 2. Heidelberg, 1809, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_katzenberger02_1809/218>, abgerufen am 21.11.2024.
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