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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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kein Wort wahr; aber da andre Autoren ihre Ro¬
mane gern für Biographien ausgeben: so wird es
mir verstattet seyn, zuweilen meiner Biographie
den Schein eines Romans anzustreichen.

Das Kind gab statt seiner Geschichte blos die
Klagen über seine Geschichte. Es schien über sie¬
ben Jahre alt, akzentuirte das Deutsche italienisch
und sein kränklich zarter, blaßrother Körper legte
sich um seine Seele wie ein bleiches Rosenblatt um
das Würmchen darin. Sein Vater hieß Doktor
Zoppo, kam aus Pavia, botanisirte sich aus Ita¬
lien nach Deutschland, ließ die Kleinen unterwegs
gelbe Blumen reissen. Der blinde Amandus wollte
in diesem Walde auch Kräuter pflücken; aber die
teuflische Okulissin traf ihn, half ihm gelbe Blumen
finden, und lokte ihn damit so tief in den Wald
hinein, daß sie ihm Kleider und Augen rauben
konnte.

Gustav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht
sähe, schenkte ihm sein Dejeuner, damit er nicht mehr
weinen sollte und konnte seine Blindheit, da seine Au¬
gen so offen waren, nicht fassen. Im nächsten Land¬
städtchen ließ sich Falkenberg rasiren und den Amandus
verbinden. Ich sah einmal auf der letzten Station

kein Wort wahr; aber da andre Autoren ihre Ro¬
mane gern fuͤr Biographien ausgeben: ſo wird es
mir verſtattet ſeyn, zuweilen meiner Biographie
den Schein eines Romans anzuſtreichen.

Das Kind gab ſtatt ſeiner Geſchichte blos die
Klagen uͤber ſeine Geſchichte. Es ſchien uͤber ſie¬
ben Jahre alt, akzentuirte das Deutſche italieniſch
und ſein kraͤnklich zarter, blaßrother Koͤrper legte
ſich um ſeine Seele wie ein bleiches Roſenblatt um
das Wuͤrmchen darin. Sein Vater hieß Doktor
Zoppo, kam aus Pavia, botaniſirte ſich aus Ita¬
lien nach Deutſchland, ließ die Kleinen unterwegs
gelbe Blumen reiſſen. Der blinde Amandus wollte
in dieſem Walde auch Kraͤuter pfluͤcken; aber die
teufliſche Okuliſſin traf ihn, half ihm gelbe Blumen
finden, und lokte ihn damit ſo tief in den Wald
hinein, daß ſie ihm Kleider und Augen rauben
konnte.

Guſtav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht
ſaͤhe, ſchenkte ihm ſein Dejeuner, damit er nicht mehr
weinen ſollte und konnte ſeine Blindheit, da ſeine Au¬
gen ſo offen waren, nicht faſſen. Im naͤchſten Land¬
ſtaͤdtchen ließ ſich Falkenberg raſiren und den Amandus
verbinden. Ich ſah einmal auf der letzten Station

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[111/0147] kein Wort wahr; aber da andre Autoren ihre Ro¬ mane gern fuͤr Biographien ausgeben: ſo wird es mir verſtattet ſeyn, zuweilen meiner Biographie den Schein eines Romans anzuſtreichen. Das Kind gab ſtatt ſeiner Geſchichte blos die Klagen uͤber ſeine Geſchichte. Es ſchien uͤber ſie¬ ben Jahre alt, akzentuirte das Deutſche italieniſch und ſein kraͤnklich zarter, blaßrother Koͤrper legte ſich um ſeine Seele wie ein bleiches Roſenblatt um das Wuͤrmchen darin. Sein Vater hieß Doktor Zoppo, kam aus Pavia, botaniſirte ſich aus Ita¬ lien nach Deutſchland, ließ die Kleinen unterwegs gelbe Blumen reiſſen. Der blinde Amandus wollte in dieſem Walde auch Kraͤuter pfluͤcken; aber die teufliſche Okuliſſin traf ihn, half ihm gelbe Blumen finden, und lokte ihn damit ſo tief in den Wald hinein, daß ſie ihm Kleider und Augen rauben konnte. Guſtav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht ſaͤhe, ſchenkte ihm ſein Dejeuner, damit er nicht mehr weinen ſollte und konnte ſeine Blindheit, da ſeine Au¬ gen ſo offen waren, nicht faſſen. Im naͤchſten Land¬ ſtaͤdtchen ließ ſich Falkenberg raſiren und den Amandus verbinden. Ich ſah einmal auf der letzten Station

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/147>, abgerufen am 21.11.2024.