Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

flammt. . . . . Nein: in Erdfarben und auf der
Leinwand von Thierfellen und auf allem was vor
mir liegt, ist bloß das Bild des Ur-Genius;
aber im Menschen ist nicht sein Bild, sondern er
selbst . . . .

Die Sonne glühte noch halb über dem Erd¬
ball, der sie zerschnitt; aber ich sah sie durch
mein zerrinnendes Auge nimmer, vergangen, ver¬
stummt, verhüllt, versunken im treibenden, flam¬
menden, reissenden, uferlosen Meere um mich. . .

Die Sonne nahm den entzückten Tag mit hin¬
unter; und jetzt steht der Aether-Diamant, den
die Nacht schwarz einfasset, der Mond, über die¬
sen zugehüllten Szenen und strahlet wie andre Dia¬
manten den entlehnten Schimmer aus . . . . O du
stille Mitternachts-Sonne! du schimmerst und der
Mensch ruht, deine Strahlen besänftigen das ir¬
dische Toben, deine herunterrinnende Funken wie¬
gen wie ein schimmernder Bach den liegenden Men¬
schen ein und der Schlaf bedeckt dann wie eine Gra¬
beserde das ruhende Herz, das trocknende Auge
und das schmerzenlose Angesicht . . . . Leben Sie
wohl und die weisse Lunens-Scheibe zeig' Ihnen

flammt. . . . . Nein: in Erdfarben und auf der
Leinwand von Thierfellen und auf allem was vor
mir liegt, iſt bloß das Bild des Ur-Genius;
aber im Menſchen iſt nicht ſein Bild, ſondern er
ſelbſt . . . .

Die Sonne gluͤhte noch halb uͤber dem Erd¬
ball, der ſie zerſchnitt; aber ich ſah ſie durch
mein zerrinnendes Auge nimmer, vergangen, ver¬
ſtummt, verhuͤllt, verſunken im treibenden, flam¬
menden, reiſſenden, uferloſen Meere um mich. . .

Die Sonne nahm den entzuͤckten Tag mit hin¬
unter; und jetzt ſteht der Aether-Diamant, den
die Nacht ſchwarz einfaſſet, der Mond, uͤber die¬
ſen zugehuͤllten Szenen und ſtrahlet wie andre Dia¬
manten den entlehnten Schimmer aus . . . . O du
ſtille Mitternachts-Sonne! du ſchimmerſt und der
Menſch ruht, deine Strahlen beſaͤnftigen das ir¬
diſche Toben, deine herunterrinnende Funken wie¬
gen wie ein ſchimmernder Bach den liegenden Men¬
ſchen ein und der Schlaf bedeckt dann wie eine Gra¬
beserde das ruhende Herz, das trocknende Auge
und das ſchmerzenloſe Angeſicht . . . . Leben Sie
wohl und die weiſſe Lunens-Scheibe zeig' Ihnen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0022" n="12"/>
flammt. . . . . Nein: in Erdfarben und auf der<lb/>
Leinwand von Thierfellen und auf allem was vor<lb/>
mir liegt, i&#x017F;t bloß das <hi rendition="#g">Bild</hi> des Ur-Genius;<lb/>
aber im Men&#x017F;chen i&#x017F;t nicht &#x017F;ein Bild, &#x017F;ondern er<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t . . . .</p><lb/>
            <p>Die Sonne glu&#x0364;hte noch halb u&#x0364;ber dem Erd¬<lb/>
ball, der &#x017F;ie zer&#x017F;chnitt; aber ich &#x017F;ah &#x017F;ie durch<lb/>
mein zerrinnendes Auge nimmer, vergangen, ver¬<lb/>
&#x017F;tummt, verhu&#x0364;llt, ver&#x017F;unken im treibenden, flam¬<lb/>
menden, rei&#x017F;&#x017F;enden, uferlo&#x017F;en Meere um mich. . .</p><lb/>
            <p>Die Sonne nahm den entzu&#x0364;ckten Tag mit hin¬<lb/>
unter; und jetzt &#x017F;teht der Aether-Diamant, den<lb/>
die Nacht &#x017F;chwarz einfa&#x017F;&#x017F;et, der Mond, u&#x0364;ber die¬<lb/>
&#x017F;en zugehu&#x0364;llten Szenen und &#x017F;trahlet wie andre Dia¬<lb/>
manten den entlehnten Schimmer aus . . . . O du<lb/>
&#x017F;tille Mitternachts-Sonne! du &#x017F;chimmer&#x017F;t und der<lb/>
Men&#x017F;ch ruht, deine Strahlen be&#x017F;a&#x0364;nftigen das ir¬<lb/>
di&#x017F;che Toben, deine herunterrinnende Funken wie¬<lb/>
gen wie ein &#x017F;chimmernder Bach den liegenden Men¬<lb/>
&#x017F;chen ein und der Schlaf bedeckt dann wie eine Gra¬<lb/>
beserde das ruhende Herz, das trocknende Auge<lb/>
und das &#x017F;chmerzenlo&#x017F;e Ange&#x017F;icht . . . . Leben Sie<lb/>
wohl und die wei&#x017F;&#x017F;e Lunens-Scheibe zeig' Ihnen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0022] flammt. . . . . Nein: in Erdfarben und auf der Leinwand von Thierfellen und auf allem was vor mir liegt, iſt bloß das Bild des Ur-Genius; aber im Menſchen iſt nicht ſein Bild, ſondern er ſelbſt . . . . Die Sonne gluͤhte noch halb uͤber dem Erd¬ ball, der ſie zerſchnitt; aber ich ſah ſie durch mein zerrinnendes Auge nimmer, vergangen, ver¬ ſtummt, verhuͤllt, verſunken im treibenden, flam¬ menden, reiſſenden, uferloſen Meere um mich. . . Die Sonne nahm den entzuͤckten Tag mit hin¬ unter; und jetzt ſteht der Aether-Diamant, den die Nacht ſchwarz einfaſſet, der Mond, uͤber die¬ ſen zugehuͤllten Szenen und ſtrahlet wie andre Dia¬ manten den entlehnten Schimmer aus . . . . O du ſtille Mitternachts-Sonne! du ſchimmerſt und der Menſch ruht, deine Strahlen beſaͤnftigen das ir¬ diſche Toben, deine herunterrinnende Funken wie¬ gen wie ein ſchimmernder Bach den liegenden Men¬ ſchen ein und der Schlaf bedeckt dann wie eine Gra¬ beserde das ruhende Herz, das trocknende Auge und das ſchmerzenloſe Angeſicht . . . . Leben Sie wohl und die weiſſe Lunens-Scheibe zeig' Ihnen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/22
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/22>, abgerufen am 21.11.2024.