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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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ter dem zitternden Nonnengitter aus verschränk¬
ten Silber- oder Wasseradern jetzt nichts aus
dem dämmernden Eden absondern als eine un¬
kenntliche stille weiße Gestalt. Aber es war ge¬
nug für ein Herz, das weint und glüht. "Du
"Engel meiner Jugendträume, dacht' er,
"wirst du es seyn? Sey du mir gegrüßet mit
"tausend Schmerzen und Freuden. -- Ach kön¬
"nen denn Leiden in dir seyn, du Himmels¬
"seele?" -- Und es ergriff ihn, daß sie mit
ihrer gequälten und entzückenden Gestalt,
wenn sie hier im Zimmer wäre, sein ganzes
Wesen zerknirschen würde durch Mitleid, und
er hätte jetzt die Umarmung des Bruders ver¬
worfen, mit dessen Hand das Verhängniß die
sanften Augen zum langen Traume zugedrückt.

Die Stickluft des bangsten Mitleids zwang
ihn wegzusehen und sich umzuwenden und in
den aufgeschlagenen Messias die Augen zu hef¬
ten, deren Tropfen er nicht zeigen wollte; aber
sie wurden durch die Erinnerung, daß er ihre
letzte Lese-Freude wiederhole, nur heißer und
dichter. Plötzlich richtete etwas Verfinsterndes,
das vor dem Fenster wie ein fallender Rabe

ter dem zitternden Nonnengitter aus verſchränk¬
ten Silber- oder Waſſeradern jetzt nichts aus
dem dämmernden Eden abſondern als eine un¬
kenntliche ſtille weiße Geſtalt. Aber es war ge¬
nug für ein Herz, das weint und glüht. „Du
„Engel meiner Jugendträume, dacht' er,
„wirſt du es ſeyn? Sey du mir gegrüßet mit
„tauſend Schmerzen und Freuden. — Ach kön¬
„nen denn Leiden in dir ſeyn, du Himmels¬
„ſeele?“ — Und es ergriff ihn, daß ſie mit
ihrer gequälten und entzückenden Geſtalt,
wenn ſie hier im Zimmer wäre, ſein ganzes
Weſen zerknirſchen würde durch Mitleid, und
er hätte jetzt die Umarmung des Bruders ver¬
worfen, mit deſſen Hand das Verhängniß die
ſanften Augen zum langen Traume zugedrückt.

Die Stickluft des bangſten Mitleids zwang
ihn wegzuſehen und ſich umzuwenden und in
den aufgeſchlagenen Meſſias die Augen zu hef¬
ten, deren Tropfen er nicht zeigen wollte; aber
ſie wurden durch die Erinnerung, daß er ihre
letzte Leſe-Freude wiederhole, nur heißer und
dichter. Plötzlich richtete etwas Verfinſterndes,
das vor dem Fenſter wie ein fallender Rabe

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[345/0365] ter dem zitternden Nonnengitter aus verſchränk¬ ten Silber- oder Waſſeradern jetzt nichts aus dem dämmernden Eden abſondern als eine un¬ kenntliche ſtille weiße Geſtalt. Aber es war ge¬ nug für ein Herz, das weint und glüht. „Du „Engel meiner Jugendträume, dacht' er, „wirſt du es ſeyn? Sey du mir gegrüßet mit „tauſend Schmerzen und Freuden. — Ach kön¬ „nen denn Leiden in dir ſeyn, du Himmels¬ „ſeele?“ — Und es ergriff ihn, daß ſie mit ihrer gequälten und entzückenden Geſtalt, wenn ſie hier im Zimmer wäre, ſein ganzes Weſen zerknirſchen würde durch Mitleid, und er hätte jetzt die Umarmung des Bruders ver¬ worfen, mit deſſen Hand das Verhängniß die ſanften Augen zum langen Traume zugedrückt. Die Stickluft des bangſten Mitleids zwang ihn wegzuſehen und ſich umzuwenden und in den aufgeſchlagenen Meſſias die Augen zu hef¬ ten, deren Tropfen er nicht zeigen wollte; aber ſie wurden durch die Erinnerung, daß er ihre letzte Leſe-Freude wiederhole, nur heißer und dichter. Plötzlich richtete etwas Verfinſterndes, das vor dem Fenſter wie ein fallender Rabe

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/365>, abgerufen am 22.11.2024.