Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

niemand wandte sich zurück. Durch die nach¬
getragne Harfe riß sich der Morgenwind und
führte von den erregten Saiten Töne wie von
Äolsharfen mit sich weiter; und der Jüngling
hörte wehmüthig dem zurückklingenden Flie¬
hen wie von Schwanen zu, die über die Län¬
der eilen, indeß hinter ihm das leere Thal
einsam in den flötenden Hirtenliedern der Liebe
fortsprach und ihn wehende nachziehende Laute
matt und dunkel erreichten. Aber er gieng auf
den Berg des Altars zurück; und da er über
die helle Gegend schauete und noch die fernen
weißen Gestalten gehen sah, ließ er seine ganze
schöne Seele weinen -- Und hier schließe sich
der reichste Tag seines jungen Lebens!

-- Aber, ihr guten Menschen, die ihr ein
Herz tragt und keines findet, oder die ihr die ge¬
liebten Wesen nur in und nicht an dem Herzen
habt, bild' ich nicht alle diese Gemälde der Wonne,
wie die Griechen, gleichsam an den Marmorsär¬
gen euerer umgelegten schlafenden Vorzeit ab?
Bin ich nicht der Archimimus, der vor euch die
zerfallnen Gestalten nachspielt, die euere Seele
begrub? Und du, jüngerer oder ärmerer

niemand wandte ſich zurück. Durch die nach¬
getragne Harfe riß ſich der Morgenwind und
führte von den erregten Saiten Töne wie von
Äolsharfen mit ſich weiter; und der Jüngling
hörte wehmüthig dem zurückklingenden Flie¬
hen wie von Schwanen zu, die über die Län¬
der eilen, indeß hinter ihm das leere Thal
einſam in den flötenden Hirtenliedern der Liebe
fortſprach und ihn wehende nachziehende Laute
matt und dunkel erreichten. Aber er gieng auf
den Berg des Altars zurück; und da er über
die helle Gegend ſchauete und noch die fernen
weißen Geſtalten gehen ſah, ließ er ſeine ganze
ſchöne Seele weinen — Und hier ſchließe ſich
der reichſte Tag ſeines jungen Lebens!

— Aber, ihr guten Menſchen, die ihr ein
Herz tragt und keines findet, oder die ihr die ge¬
liebten Weſen nur in und nicht an dem Herzen
habt, bild' ich nicht alle dieſe Gemälde der Wonne,
wie die Griechen, gleichſam an den Marmorſär¬
gen euerer umgelegten ſchlafenden Vorzeit ab?
Bin ich nicht der Archimimus, der vor euch die
zerfallnen Geſtalten nachſpielt, die euere Seele
begrub? Und du, jüngerer oder ärmerer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0461" n="441"/>
niemand wandte &#x017F;ich zurück. Durch die nach¬<lb/>
getragne Harfe riß &#x017F;ich der Morgenwind und<lb/>
führte von den erregten Saiten Töne wie von<lb/>
Äolsharfen mit &#x017F;ich weiter; und der Jüngling<lb/>
hörte wehmüthig dem zurückklingenden Flie¬<lb/>
hen wie von Schwanen zu, die über die Län¬<lb/>
der eilen, indeß hinter ihm das leere Thal<lb/>
ein&#x017F;am in den flötenden Hirtenliedern der Liebe<lb/>
fort&#x017F;prach und ihn wehende nachziehende Laute<lb/>
matt und dunkel erreichten. Aber er gieng auf<lb/>
den Berg des Altars zurück; und da er über<lb/>
die helle Gegend &#x017F;chauete und noch die fernen<lb/>
weißen Ge&#x017F;talten gehen &#x017F;ah, ließ er &#x017F;eine ganze<lb/>
&#x017F;chöne Seele weinen &#x2014; Und hier &#x017F;chließe &#x017F;ich<lb/>
der reich&#x017F;te Tag &#x017F;eines jungen Lebens!</p><lb/>
          <p>&#x2014; Aber, ihr guten Men&#x017F;chen, die ihr ein<lb/>
Herz tragt und keines findet, oder die ihr die ge¬<lb/>
liebten We&#x017F;en nur <hi rendition="#g">in</hi> und nicht <hi rendition="#g">an</hi> dem Herzen<lb/>
habt, bild' ich nicht alle die&#x017F;e Gemälde der Wonne,<lb/>
wie die Griechen, gleich&#x017F;am an den Marmor&#x017F;är¬<lb/>
gen euerer umgelegten &#x017F;chlafenden Vorzeit ab?<lb/>
Bin ich nicht der <hi rendition="#g">Archimimus</hi>, der vor euch die<lb/>
zerfallnen Ge&#x017F;talten nach&#x017F;pielt, die euere Seele<lb/>
begrub? Und du, jüngerer oder ärmerer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[441/0461] niemand wandte ſich zurück. Durch die nach¬ getragne Harfe riß ſich der Morgenwind und führte von den erregten Saiten Töne wie von Äolsharfen mit ſich weiter; und der Jüngling hörte wehmüthig dem zurückklingenden Flie¬ hen wie von Schwanen zu, die über die Län¬ der eilen, indeß hinter ihm das leere Thal einſam in den flötenden Hirtenliedern der Liebe fortſprach und ihn wehende nachziehende Laute matt und dunkel erreichten. Aber er gieng auf den Berg des Altars zurück; und da er über die helle Gegend ſchauete und noch die fernen weißen Geſtalten gehen ſah, ließ er ſeine ganze ſchöne Seele weinen — Und hier ſchließe ſich der reichſte Tag ſeines jungen Lebens! — Aber, ihr guten Menſchen, die ihr ein Herz tragt und keines findet, oder die ihr die ge¬ liebten Weſen nur in und nicht an dem Herzen habt, bild' ich nicht alle dieſe Gemälde der Wonne, wie die Griechen, gleichſam an den Marmorſär¬ gen euerer umgelegten ſchlafenden Vorzeit ab? Bin ich nicht der Archimimus, der vor euch die zerfallnen Geſtalten nachſpielt, die euere Seele begrub? Und du, jüngerer oder ärmerer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/461
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/461>, abgerufen am 22.11.2024.