"guten Gedichts, man genießet beide besser, "ohne sie zu zählen oder zu zergliedern." -- "Und ich, sagte Cesara, würde zählen und zer¬ "gliedern schon aus Stolz; was herauskäme, "ertrüg' ich und ich würde mich schämen, un¬ "glücklich zu seyn. Ist das Leben wie eine "Olive eine bittere Frucht, so greife nur beide "scharf mit der Presse an, sie liefern das süs¬ "seste Oel." -- Hier stand er auf, um bis abends in der Insel allein zu bleiben; er bat um Nachsicht, machte aber keinen Vorwand. Seine hohe ehrgeizige Seele war unfähig, sich zur kleinsten Lüge niederzubücken; nicht einmal gegen -- Vieh. Er lockte in Blumenbühl Flug¬ tauben täglich durch Futter näher, und seine Pflegeschwester bat ihn oft, eine zu ergreifen; aber er sagte immer Nein, weil er sogar ein thieri¬ sches Vertrauen nicht belügen wollte. --
Als sie ihm nachsahen, da er langsam mit nachspringenden Schatten und mit den an ihm herabschlüpfenden Sonnenblitzen durch die Lor¬ beerbäume gieng und wie in einem Traume die Zweige mit vorausgehaltenen Händen sanft auseinanderbog: so brach Dian aus: "welche
„guten Gedichts, man genießet beide beſſer, „ohne ſie zu zählen oder zu zergliedern.“ — „Und ich, ſagte Ceſara, würde zählen und zer¬ „gliedern ſchon aus Stolz; was herauskäme, „ertrüg' ich und ich würde mich ſchämen, un¬ „glücklich zu ſeyn. Iſt das Leben wie eine „Olive eine bittere Frucht, ſo greife nur beide „ſcharf mit der Preſſe an, ſie liefern das ſüs¬ „ſeſte Oel.“ — Hier ſtand er auf, um bis abends in der Inſel allein zu bleiben; er bat um Nachſicht, machte aber keinen Vorwand. Seine hohe ehrgeizige Seele war unfähig, ſich zur kleinſten Lüge niederzubücken; nicht einmal gegen — Vieh. Er lockte in Blumenbühl Flug¬ tauben täglich durch Futter näher, und ſeine Pflegeſchweſter bat ihn oft, eine zu ergreifen; aber er ſagte immer Nein, weil er ſogar ein thieri¬ ſches Vertrauen nicht belügen wollte. —
Als ſie ihm nachſahen, da er langſam mit nachſpringenden Schatten und mit den an ihm herabſchlüpfenden Sonnenblitzen durch die Lor¬ beerbäume gieng und wie in einem Traume die Zweige mit vorausgehaltenen Händen ſanft auseinanderbog: ſo brach Dian aus: „welche
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„guten Gedichts, man genießet beide beſſer,
„ohne ſie zu zählen oder zu zergliedern.“ —
„Und ich, ſagte Ceſara, würde zählen und zer¬
„gliedern ſchon aus Stolz; was herauskäme,
„ertrüg' ich und ich würde mich ſchämen, un¬
„glücklich zu ſeyn. Iſt das Leben wie eine
„Olive eine bittere Frucht, ſo greife nur beide
„ſcharf mit der Preſſe an, ſie liefern das ſüs¬
„ſeſte Oel.“ — Hier ſtand er auf, um bis
abends in der Inſel allein zu bleiben; er bat
um Nachſicht, machte aber keinen Vorwand.
Seine hohe ehrgeizige Seele war unfähig, ſich
zur kleinſten Lüge niederzubücken; nicht einmal
gegen — Vieh. Er lockte in Blumenbühl Flug¬
tauben täglich durch Futter näher, und ſeine
Pflegeſchweſter bat ihn oft, eine zu ergreifen; aber
er ſagte immer Nein, weil er ſogar ein thieri¬
ſches Vertrauen nicht belügen wollte. —
Als ſie ihm nachſahen, da er langſam mit
nachſpringenden Schatten und mit den an ihm
herabſchlüpfenden Sonnenblitzen durch die Lor¬
beerbäume gieng und wie in einem Traume die
Zweige mit vorausgehaltenen Händen ſanft
auseinanderbog: ſo brach Dian aus: „welche
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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/63>, abgerufen am 21.11.2024.
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