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Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

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blüht, die schönen Tage, wo man sie betritt
und das ewige frohe Umsehen nach ihnen,
wenn sie schon tief im Horizonte mit ihren blü¬
henden Gipfeln liegen? Mutter, war diese
frohe Zeit in deiner Brust, so nimm sie der
Tochter nicht; und war sie dir grausam entzo¬
gen, so denk' an deinen bittersten Schmerz und
erb' ihn nicht fort.

Gesetzt ferner, sie macht den Entführer ih¬
rer Seele glücklich, rechne nun, was sie für den
Liebling derselben gewesen wäre und ob sie
dann nichts verdiene als den zu ihr von Einer
Gefängnißthüre auf immer eingeschlossenen Ker¬
kermeister zu ergötzen? -- Aber so gut ist's
selten; -- du wirst ein doppeltes Mißgeschick
auf deine Seele häufen, den langen Schmerz
der Tochter, das Erkalten des Gatten, der spä¬
ter die Weigerungen fühlt und rügt. -- Du
hast die Zeit verschattet, wo der Mensch am
ersten Morgensonne braucht, die Jugend.
O macht lieber alle andere Tageszeiten des Le¬
bens trübe, -- sie sind sich alle ähnlich, das
dritte, und das vierte und fünfte Jahrzehend --
nur bei Sonnenaufgang lasset es nicht ins Le¬

blüht, die ſchönen Tage, wo man ſie betritt
und das ewige frohe Umſehen nach ihnen,
wenn ſie ſchon tief im Horizonte mit ihren blü¬
henden Gipfeln liegen? Mutter, war dieſe
frohe Zeit in deiner Bruſt, ſo nimm ſie der
Tochter nicht; und war ſie dir grauſam entzo¬
gen, ſo denk' an deinen bitterſten Schmerz und
erb' ihn nicht fort.

Geſetzt ferner, ſie macht den Entführer ih¬
rer Seele glücklich, rechne nun, was ſie für den
Liebling derſelben geweſen wäre und ob ſie
dann nichts verdiene als den zu ihr von Einer
Gefängnißthüre auf immer eingeſchloſſenen Ker¬
kermeiſter zu ergötzen? — Aber ſo gut iſt's
ſelten; — du wirſt ein doppeltes Mißgeſchick
auf deine Seele häufen, den langen Schmerz
der Tochter, das Erkalten des Gatten, der ſpä¬
ter die Weigerungen fühlt und rügt. — Du
haſt die Zeit verſchattet, wo der Menſch am
erſten Morgenſonne braucht, die Jugend.
O macht lieber alle andere Tageszeiten des Le¬
bens trübe, — ſie ſind ſich alle ähnlich, das
dritte, und das vierte und fünfte Jahrzehend —
nur bei Sonnenaufgang laſſet es nicht ins Le¬

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[92/0100] blüht, die ſchönen Tage, wo man ſie betritt und das ewige frohe Umſehen nach ihnen, wenn ſie ſchon tief im Horizonte mit ihren blü¬ henden Gipfeln liegen? Mutter, war dieſe frohe Zeit in deiner Bruſt, ſo nimm ſie der Tochter nicht; und war ſie dir grauſam entzo¬ gen, ſo denk' an deinen bitterſten Schmerz und erb' ihn nicht fort. Geſetzt ferner, ſie macht den Entführer ih¬ rer Seele glücklich, rechne nun, was ſie für den Liebling derſelben geweſen wäre und ob ſie dann nichts verdiene als den zu ihr von Einer Gefängnißthüre auf immer eingeſchloſſenen Ker¬ kermeiſter zu ergötzen? — Aber ſo gut iſt's ſelten; — du wirſt ein doppeltes Mißgeſchick auf deine Seele häufen, den langen Schmerz der Tochter, das Erkalten des Gatten, der ſpä¬ ter die Weigerungen fühlt und rügt. — Du haſt die Zeit verſchattet, wo der Menſch am erſten Morgenſonne braucht, die Jugend. O macht lieber alle andere Tageszeiten des Le¬ bens trübe, — ſie ſind ſich alle ähnlich, das dritte, und das vierte und fünfte Jahrzehend — nur bei Sonnenaufgang laſſet es nicht ins Le¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/100>, abgerufen am 24.11.2024.