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Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

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sich unvergiftet durchreisset und blos die Bie¬
nenflügel beschmutzt. Aber diese allmächtige
Phantasie, diese strömende Liebe, diese Weich¬
heit und Stärke, diese erobernde Besonnenheit
wird jede weibliche Psyche mit Gespinnsten über¬
ziehen, sobald sie nicht die ersten Fäden weg¬
schlägt. -- Könnt' ich euch warnen, arme
Mädgen, vor solchen Kunturs, die mit euch in
ihren Krallen auffliegen! Der Himmel unserer
Tage hängt voll dieser Adler. Sie lieben euch
nicht, aber sie glauben es; weil sie wie die
Seeligen in Muhammeds Paradies statt der
verlornen Liebes-Arme nur Fittiche der Phan¬
tasie haben. Sie sind gleich großen Strömen
nur am Ufer warm und in der Mitte kalt.

Bald Schwärmer, bald Libertin in der
Liebe, durchlief er den Wechsel zwischen Aether
und Schlamm immer schneller bis er beide ver¬
mischte. Seine Blüten stiegen am lakierten
Blumenstabe des Ideals hinauf, der aber far¬
benlos im Boden verfaulte. Erschreckt, aber
glaubt es, er stürzte sich zuweilen absichtlich in
die Sünde und Marter hinab; um sich drun¬
ten durch die Wunden der Reue und Demuth

ſich unvergiftet durchreiſſet und blos die Bie¬
nenflügel beſchmutzt. Aber dieſe allmächtige
Phantaſie, dieſe ſtrömende Liebe, dieſe Weich¬
heit und Stärke, dieſe erobernde Beſonnenheit
wird jede weibliche Pſyche mit Geſpinnſten über¬
ziehen, ſobald ſie nicht die erſten Fäden weg¬
ſchlägt. — Könnt' ich euch warnen, arme
Mädgen, vor ſolchen Kunturs, die mit euch in
ihren Krallen auffliegen! Der Himmel unſerer
Tage hängt voll dieſer Adler. Sie lieben euch
nicht, aber ſie glauben es; weil ſie wie die
Seeligen in Muhammeds Paradies ſtatt der
verlornen Liebes-Arme nur Fittiche der Phan¬
taſie haben. Sie ſind gleich großen Strömen
nur am Ufer warm und in der Mitte kalt.

Bald Schwärmer, bald Libertin in der
Liebe, durchlief er den Wechſel zwiſchen Aether
und Schlamm immer ſchneller bis er beide ver¬
miſchte. Seine Blüten ſtiegen am lakierten
Blumenſtabe des Ideals hinauf, der aber far¬
benlos im Boden verfaulte. Erſchreckt, aber
glaubt es, er ſtürzte ſich zuweilen abſichtlich in
die Sünde und Marter hinab; um ſich drun¬
ten durch die Wunden der Reue und Demuth

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[11/0019] ſich unvergiftet durchreiſſet und blos die Bie¬ nenflügel beſchmutzt. Aber dieſe allmächtige Phantaſie, dieſe ſtrömende Liebe, dieſe Weich¬ heit und Stärke, dieſe erobernde Beſonnenheit wird jede weibliche Pſyche mit Geſpinnſten über¬ ziehen, ſobald ſie nicht die erſten Fäden weg¬ ſchlägt. — Könnt' ich euch warnen, arme Mädgen, vor ſolchen Kunturs, die mit euch in ihren Krallen auffliegen! Der Himmel unſerer Tage hängt voll dieſer Adler. Sie lieben euch nicht, aber ſie glauben es; weil ſie wie die Seeligen in Muhammeds Paradies ſtatt der verlornen Liebes-Arme nur Fittiche der Phan¬ taſie haben. Sie ſind gleich großen Strömen nur am Ufer warm und in der Mitte kalt. Bald Schwärmer, bald Libertin in der Liebe, durchlief er den Wechſel zwiſchen Aether und Schlamm immer ſchneller bis er beide ver¬ miſchte. Seine Blüten ſtiegen am lakierten Blumenſtabe des Ideals hinauf, der aber far¬ benlos im Boden verfaulte. Erſchreckt, aber glaubt es, er ſtürzte ſich zuweilen abſichtlich in die Sünde und Marter hinab; um ſich drun¬ ten durch die Wunden der Reue und Demuth

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/19>, abgerufen am 21.11.2024.