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Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

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stens etwas haben wollte, wenn er kam; vor
Freude trug sie ihm das Buch, woraus sie der
stickenden Mutter vorgelesen, in der Hand ent¬
gegen. Sie und die Mutter hatten den ganzen
Tag heiter und einsam mit gegenseitigem Ab¬
lösen in Sticken und Lesen verlebt; so oft der
Minister verreiste, waren sie zugleich von Un¬
friede und Visiten-Chariwari frei. Wie ge¬
rührt erkannte Albano das Morgenzimmer wie¬
der, aus dem er das erstemal das theuere Mäd¬
gen nur als Blinde in der Ferne zwischen Was¬
serbogen stehen sehen! Die gute Liane nahm ihn
unbefangener auf, als er es durch Karls Einwei¬
hung in seine Wünsche bleiben konnte. Welche
paradiesische Mischung von unberechneter Scheu
und überfließender Freundlichkeit, Stille und
Feuer, von Blödigkeit und Anmuth der Bewe¬
gung, von scherzender Güte, von schweigendem
Wissen! Dafür gebührt ihr der herrliche Beiname
Virgils, die jungfräuliche. In unsern Tagen
der weiblichen Krachmandeln, der akademischen
Kraftfrauen, der Hopstänze und Doublirmarsch¬
schritte im platten Schuh kommt der virgilia¬
nische Titel nicht oft vor. Nur zehn Jahre

ſtens etwas haben wollte, wenn er kam; vor
Freude trug ſie ihm das Buch, woraus ſie der
ſtickenden Mutter vorgeleſen, in der Hand ent¬
gegen. Sie und die Mutter hatten den ganzen
Tag heiter und einſam mit gegenſeitigem Ab¬
löſen in Sticken und Leſen verlebt; ſo oft der
Miniſter verreiſte, waren ſie zugleich von Un¬
friede und Viſiten-Chariwari frei. Wie ge¬
rührt erkannte Albano das Morgenzimmer wie¬
der, aus dem er das erſtemal das theuere Mäd¬
gen nur als Blinde in der Ferne zwiſchen Waſ¬
ſerbogen ſtehen ſehen! Die gute Liane nahm ihn
unbefangener auf, als er es durch Karls Einwei¬
hung in ſeine Wünſche bleiben konnte. Welche
paradieſiſche Miſchung von unberechneter Scheu
und überfließender Freundlichkeit, Stille und
Feuer, von Blödigkeit und Anmuth der Bewe¬
gung, von ſcherzender Güte, von ſchweigendem
Wiſſen! Dafür gebührt ihr der herrliche Beiname
Virgils, die jungfräuliche. In unſern Tagen
der weiblichen Krachmandeln, der akademiſchen
Kraftfrauen, der Hopstänze und Doublirmarſch¬
ſchritte im platten Schuh kommt der virgilia¬
niſche Titel nicht oft vor. Nur zehn Jahre

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[40/0048] ſtens etwas haben wollte, wenn er kam; vor Freude trug ſie ihm das Buch, woraus ſie der ſtickenden Mutter vorgeleſen, in der Hand ent¬ gegen. Sie und die Mutter hatten den ganzen Tag heiter und einſam mit gegenſeitigem Ab¬ löſen in Sticken und Leſen verlebt; ſo oft der Miniſter verreiſte, waren ſie zugleich von Un¬ friede und Viſiten-Chariwari frei. Wie ge¬ rührt erkannte Albano das Morgenzimmer wie¬ der, aus dem er das erſtemal das theuere Mäd¬ gen nur als Blinde in der Ferne zwiſchen Waſ¬ ſerbogen ſtehen ſehen! Die gute Liane nahm ihn unbefangener auf, als er es durch Karls Einwei¬ hung in ſeine Wünſche bleiben konnte. Welche paradieſiſche Miſchung von unberechneter Scheu und überfließender Freundlichkeit, Stille und Feuer, von Blödigkeit und Anmuth der Bewe¬ gung, von ſcherzender Güte, von ſchweigendem Wiſſen! Dafür gebührt ihr der herrliche Beiname Virgils, die jungfräuliche. In unſern Tagen der weiblichen Krachmandeln, der akademiſchen Kraftfrauen, der Hopstänze und Doublirmarſch¬ ſchritte im platten Schuh kommt der virgilia¬ niſche Titel nicht oft vor. Nur zehn Jahre

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/48>, abgerufen am 21.11.2024.