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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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zarter Mund im Lieben und Trauern, so öf¬
nete sich ihr mildes Auge, so gieng ihr feines
Haar um das blendend-weisse, gefällige An¬
gesicht, so war ihr ganzes schönes Gemüth und
Leben aufrichtig in ihr Antlitz gemahlt -- Nur
stand Idoine größer da, wie eine Auferstan¬
dene, stolzer und länger ihre Gestalt, blasser
ihre Farbe, denkender die jungfräuliche Stirn.
Sie konnte, da er sie so schweigend und ver¬
gleichend anblickte, sich der Rührung über den
getäuschten Unglücklichen nicht erwehren und sie
weinte, und er auch.

"Betrüb' ich Sie auch?" sagte er in höch¬
ster Bewegung. Mit dem Sprachtone der
Jungfrau, die unter den Blumen lag, sagte
unschuldig Idoine: "ich weine nur, daß ich
nicht Liane bin." Schnell setzte sie hinzu: "ach
diese Stelle ist so heilig, und doch ist's der
Mensch nicht genug." -- Er verstand ihre
Selbst-Rüge nicht. Ehrfurcht und Offenher¬
zigkeit und Begeisterung bemächtigten sich sei¬
ner, das Leben stand glänzend aus der engen,
bangen Wirklichkeit auf, wie aus einem Sarg,
der Himmel sank näher herzu mit hohen Ster¬

zarter Mund im Lieben und Trauern, ſo öf¬
nete ſich ihr mildes Auge, ſo gieng ihr feines
Haar um das blendend-weiſſe, gefällige An¬
geſicht, ſo war ihr ganzes ſchönes Gemüth und
Leben aufrichtig in ihr Antlitz gemahlt — Nur
ſtand Idoine größer da, wie eine Auferſtan¬
dene, ſtolzer und länger ihre Geſtalt, blaſſer
ihre Farbe, denkender die jungfräuliche Stirn.
Sie konnte, da er ſie ſo ſchweigend und ver¬
gleichend anblickte, ſich der Rührung über den
getäuſchten Unglücklichen nicht erwehren und ſie
weinte, und er auch.

„Betrüb' ich Sie auch?“ ſagte er in höch¬
ſter Bewegung. Mit dem Sprachtone der
Jungfrau, die unter den Blumen lag, ſagte
unſchuldig Idoine: „ich weine nur, daß ich
nicht Liane bin.“ Schnell ſetzte ſie hinzu: „ach
dieſe Stelle iſt ſo heilig, und doch iſt's der
Menſch nicht genug.“ — Er verſtand ihre
Selbſt-Rüge nicht. Ehrfurcht und Offenher¬
zigkeit und Begeiſterung bemächtigten ſich ſei¬
ner, das Leben ſtand glänzend aus der engen,
bangen Wirklichkeit auf, wie aus einem Sarg,
der Himmel ſank näher herzu mit hohen Ster¬

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[490/0502] zarter Mund im Lieben und Trauern, ſo öf¬ nete ſich ihr mildes Auge, ſo gieng ihr feines Haar um das blendend-weiſſe, gefällige An¬ geſicht, ſo war ihr ganzes ſchönes Gemüth und Leben aufrichtig in ihr Antlitz gemahlt — Nur ſtand Idoine größer da, wie eine Auferſtan¬ dene, ſtolzer und länger ihre Geſtalt, blaſſer ihre Farbe, denkender die jungfräuliche Stirn. Sie konnte, da er ſie ſo ſchweigend und ver¬ gleichend anblickte, ſich der Rührung über den getäuſchten Unglücklichen nicht erwehren und ſie weinte, und er auch. „Betrüb' ich Sie auch?“ ſagte er in höch¬ ſter Bewegung. Mit dem Sprachtone der Jungfrau, die unter den Blumen lag, ſagte unſchuldig Idoine: „ich weine nur, daß ich nicht Liane bin.“ Schnell ſetzte ſie hinzu: „ach dieſe Stelle iſt ſo heilig, und doch iſt's der Menſch nicht genug.“ — Er verſtand ihre Selbſt-Rüge nicht. Ehrfurcht und Offenher¬ zigkeit und Begeiſterung bemächtigten ſich ſei¬ ner, das Leben ſtand glänzend aus der engen, bangen Wirklichkeit auf, wie aus einem Sarg, der Himmel ſank näher herzu mit hohen Ster¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/502>, abgerufen am 22.11.2024.