Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Bewaffnung.
und die Schleuder ihre höchste Vollkommenheit erreicht. Die
Steine sind nämlich gerundet, und werden, an einem Leder-
riemen befestigt, über dem Kopf geschwungen. So entstand
die Wurfleine mit den Kugeln oder Bolas1). Ja mit der
Zeit verwendete man sogar die Wurfleine ohne jeden Stein, und
noch jetzt schwingen die Gauchos oder halbblütigen Hirten der
Argentina ihren Lasso so meisterhaft, dass sie ihn zur Bewältigung
eines Gegners sogar dem Feuerrohr vorziehen2). Auch im alten
Aegypten war an die Stelle der gewöhnlichen Schleuder die Leine
mit den Wurfkugeln getreten, denn unter den Jagdscenen, welche
uns die Denkmäler erhalten haben, erblicken wir einen pharaoni-
schen Waidmann, der einem Büffel die Leine mit der Kugel um
die hinteren Füsse wirft3). Es ist wohl nicht zu besorgen, dass
jemand den kühnen Schluss ziehe, die Patagonier stammten von
den Altägyptern ab, oder es hätten sich Aegypter vielleicht von
der phönicischen Flotte, die unter dem Pharaoh Neku Afrika um-
schiffte, nach Südamerika verirrt. Wir stossen vielmehr hier auf
eines der unzähligen Beispiele, dass die nämlichen Geräthe von
ganz entfernten und sich ganz entfremdeten Völkern selbständig
erfunden worden sind.

Haben wir bisher nur die Technik der Waffen mit der Be-
schaffenheit der Erdräume verglichen, so wenden wir uns jetzt einer
ernsteren Seite des Gegenstandes zu. Wie die vergleichende Ana-
tomie den lateinischen Sinnspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit
erhoben hat, dass aus der Klaue der Löwe sich erkennen lasse,
so kann die Völkerkunde aus den Waffen mit grosser Sicherheit
auf die Gesittungsstufe eines Volkes schliessen. Die Vorbedingung
aller höheren gesellschaftlichen Zustände ist die räumliche Ver-
dichtung der Bevölkerung, weil sie eine Theilung der Arbeit ver-
stattet. Aus der Kopfzahl und dem Flächeninhalt, welchen 1825

1) Ueber die Verbreitung der Bolas bei den Ketschuavölkern in Peru,
vgl. Markham, Proceed. of the Royal Geogr. Soc. vol. XV. No. 5. Sitzung
vom 10. Juli 1871.
2) v. Tschudi, Reisen in Südamerika. Bd. 4. S. 287. Dass er von den
Alliirten im Kriege gegen die Paraguiten angewendet wurde, darüber vergl.
Ausland 1870. S. 320 und Max v. Versen, Reisen in Amerika und der
südamerikanische Krieg. Breslau 1872. S. 119.
3) Wilkinson, ancient Egyptians, tom. III, p. 15, sowie in Lepsius'
Denkmälern.

Die Bewaffnung.
und die Schleuder ihre höchste Vollkommenheit erreicht. Die
Steine sind nämlich gerundet, und werden, an einem Leder-
riemen befestigt, über dem Kopf geschwungen. So entstand
die Wurfleine mit den Kugeln oder Bolas1). Ja mit der
Zeit verwendete man sogar die Wurfleine ohne jeden Stein, und
noch jetzt schwingen die Gauchos oder halbblütigen Hirten der
Argentina ihren Lasso so meisterhaft, dass sie ihn zur Bewältigung
eines Gegners sogar dem Feuerrohr vorziehen2). Auch im alten
Aegypten war an die Stelle der gewöhnlichen Schleuder die Leine
mit den Wurfkugeln getreten, denn unter den Jagdscenen, welche
uns die Denkmäler erhalten haben, erblicken wir einen pharaoni-
schen Waidmann, der einem Büffel die Leine mit der Kugel um
die hinteren Füsse wirft3). Es ist wohl nicht zu besorgen, dass
jemand den kühnen Schluss ziehe, die Patagonier stammten von
den Altägyptern ab, oder es hätten sich Aegypter vielleicht von
der phönicischen Flotte, die unter dem Pharaoh Neku Afrika um-
schiffte, nach Südamerika verirrt. Wir stossen vielmehr hier auf
eines der unzähligen Beispiele, dass die nämlichen Geräthe von
ganz entfernten und sich ganz entfremdeten Völkern selbständig
erfunden worden sind.

Haben wir bisher nur die Technik der Waffen mit der Be-
schaffenheit der Erdräume verglichen, so wenden wir uns jetzt einer
ernsteren Seite des Gegenstandes zu. Wie die vergleichende Ana-
tomie den lateinischen Sinnspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit
erhoben hat, dass aus der Klaue der Löwe sich erkennen lasse,
so kann die Völkerkunde aus den Waffen mit grosser Sicherheit
auf die Gesittungsstufe eines Volkes schliessen. Die Vorbedingung
aller höheren gesellschaftlichen Zustände ist die räumliche Ver-
dichtung der Bevölkerung, weil sie eine Theilung der Arbeit ver-
stattet. Aus der Kopfzahl und dem Flächeninhalt, welchen 1825

1) Ueber die Verbreitung der Bolas bei den Ketschuavölkern in Peru,
vgl. Markham, Proceed. of the Royal Geogr. Soc. vol. XV. No. 5. Sitzung
vom 10. Juli 1871.
2) v. Tschudi, Reisen in Südamerika. Bd. 4. S. 287. Dass er von den
Alliirten im Kriege gegen die Paraguiten angewendet wurde, darüber vergl.
Ausland 1870. S. 320 und Max v. Versen, Reisen in Amerika und der
südamerikanische Krieg. Breslau 1872. S. 119.
3) Wilkinson, ancient Egyptians, tom. III, p. 15, sowie in Lepsius’
Denkmälern.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0217" n="199"/><fw place="top" type="header">Die Bewaffnung.</fw><lb/>
und die Schleuder ihre höchste Vollkommenheit erreicht. Die<lb/>
Steine sind nämlich gerundet, und werden, an einem Leder-<lb/>
riemen befestigt, über dem Kopf geschwungen. So entstand<lb/>
die Wurfleine mit den Kugeln oder Bolas<note place="foot" n="1)">Ueber die Verbreitung der Bolas bei den Ketschuavölkern in Peru,<lb/>
vgl. <hi rendition="#g">Markham</hi>, Proceed. of the Royal Geogr. Soc. vol. XV. No. 5. Sitzung<lb/>
vom 10. Juli 1871.</note>. Ja mit der<lb/>
Zeit verwendete man sogar die Wurfleine ohne jeden Stein, und<lb/>
noch jetzt schwingen die Gauchos oder halbblütigen Hirten der<lb/>
Argentina ihren Lasso so meisterhaft, dass sie ihn zur Bewältigung<lb/>
eines Gegners sogar dem Feuerrohr vorziehen<note place="foot" n="2)">v. <hi rendition="#g">Tschudi</hi>, Reisen in Südamerika. Bd. 4. S. 287. Dass er von den<lb/>
Alliirten im Kriege gegen die Paraguiten angewendet wurde, darüber vergl.<lb/>
Ausland 1870. S. 320 und <hi rendition="#g">Max v. Versen</hi>, Reisen in Amerika und der<lb/>
südamerikanische Krieg. Breslau 1872. S. 119.</note>. Auch im alten<lb/>
Aegypten war an die Stelle der gewöhnlichen Schleuder die Leine<lb/>
mit den Wurfkugeln getreten, denn unter den Jagdscenen, welche<lb/>
uns die Denkmäler erhalten haben, erblicken wir einen pharaoni-<lb/>
schen Waidmann, der einem Büffel die Leine mit der Kugel um<lb/>
die hinteren Füsse wirft<note place="foot" n="3)"><hi rendition="#g">Wilkinson</hi>, ancient Egyptians, tom. III, p. 15, sowie in Lepsius&#x2019;<lb/>
Denkmälern.</note>. Es ist wohl nicht zu besorgen, dass<lb/>
jemand den kühnen Schluss ziehe, die Patagonier stammten von<lb/>
den Altägyptern ab, oder es hätten sich Aegypter vielleicht von<lb/>
der phönicischen Flotte, die unter dem Pharaoh Neku Afrika um-<lb/>
schiffte, nach Südamerika verirrt. Wir stossen vielmehr hier auf<lb/>
eines der unzähligen Beispiele, dass die nämlichen Geräthe von<lb/>
ganz entfernten und sich ganz entfremdeten Völkern selbständig<lb/>
erfunden worden sind.</p><lb/>
          <p>Haben wir bisher nur die Technik der Waffen mit der Be-<lb/>
schaffenheit der Erdräume verglichen, so wenden wir uns jetzt einer<lb/>
ernsteren Seite des Gegenstandes zu. Wie die vergleichende Ana-<lb/>
tomie den lateinischen Sinnspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit<lb/>
erhoben hat, dass aus der Klaue der Löwe sich erkennen lasse,<lb/>
so kann die Völkerkunde aus den Waffen mit grosser Sicherheit<lb/>
auf die Gesittungsstufe eines Volkes schliessen. Die Vorbedingung<lb/>
aller höheren gesellschaftlichen Zustände ist die räumliche Ver-<lb/>
dichtung der Bevölkerung, weil sie eine Theilung der Arbeit ver-<lb/>
stattet. Aus der Kopfzahl und dem Flächeninhalt, welchen 1825<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0217] Die Bewaffnung. und die Schleuder ihre höchste Vollkommenheit erreicht. Die Steine sind nämlich gerundet, und werden, an einem Leder- riemen befestigt, über dem Kopf geschwungen. So entstand die Wurfleine mit den Kugeln oder Bolas 1). Ja mit der Zeit verwendete man sogar die Wurfleine ohne jeden Stein, und noch jetzt schwingen die Gauchos oder halbblütigen Hirten der Argentina ihren Lasso so meisterhaft, dass sie ihn zur Bewältigung eines Gegners sogar dem Feuerrohr vorziehen 2). Auch im alten Aegypten war an die Stelle der gewöhnlichen Schleuder die Leine mit den Wurfkugeln getreten, denn unter den Jagdscenen, welche uns die Denkmäler erhalten haben, erblicken wir einen pharaoni- schen Waidmann, der einem Büffel die Leine mit der Kugel um die hinteren Füsse wirft 3). Es ist wohl nicht zu besorgen, dass jemand den kühnen Schluss ziehe, die Patagonier stammten von den Altägyptern ab, oder es hätten sich Aegypter vielleicht von der phönicischen Flotte, die unter dem Pharaoh Neku Afrika um- schiffte, nach Südamerika verirrt. Wir stossen vielmehr hier auf eines der unzähligen Beispiele, dass die nämlichen Geräthe von ganz entfernten und sich ganz entfremdeten Völkern selbständig erfunden worden sind. Haben wir bisher nur die Technik der Waffen mit der Be- schaffenheit der Erdräume verglichen, so wenden wir uns jetzt einer ernsteren Seite des Gegenstandes zu. Wie die vergleichende Ana- tomie den lateinischen Sinnspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit erhoben hat, dass aus der Klaue der Löwe sich erkennen lasse, so kann die Völkerkunde aus den Waffen mit grosser Sicherheit auf die Gesittungsstufe eines Volkes schliessen. Die Vorbedingung aller höheren gesellschaftlichen Zustände ist die räumliche Ver- dichtung der Bevölkerung, weil sie eine Theilung der Arbeit ver- stattet. Aus der Kopfzahl und dem Flächeninhalt, welchen 1825 1) Ueber die Verbreitung der Bolas bei den Ketschuavölkern in Peru, vgl. Markham, Proceed. of the Royal Geogr. Soc. vol. XV. No. 5. Sitzung vom 10. Juli 1871. 2) v. Tschudi, Reisen in Südamerika. Bd. 4. S. 287. Dass er von den Alliirten im Kriege gegen die Paraguiten angewendet wurde, darüber vergl. Ausland 1870. S. 320 und Max v. Versen, Reisen in Amerika und der südamerikanische Krieg. Breslau 1872. S. 119. 3) Wilkinson, ancient Egyptians, tom. III, p. 15, sowie in Lepsius’ Denkmälern.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/217
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/217>, abgerufen am 22.12.2024.