jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu- rufen 1).
Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu- geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters- schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be- troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos Menschenstämme, die wie die Australier 2) freilich mit Unrecht sehr tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer 3), dass die Todesfälle auf- hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute- nant Musters 4), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu- schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata- goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen- schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord- Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs- weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver- mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten. Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver- brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte
1) Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be- schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix, Nouv. France tom. III. p. 426.
2)Eyre, Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.
3) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106.
4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.
Der Schamanismus.
jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu- rufen 1).
Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu- geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters- schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be- troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos Menschenstämme, die wie die Australier 2) freilich mit Unrecht sehr tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer 3), dass die Todesfälle auf- hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute- nant Musters 4), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu- schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata- goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen- schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord- Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs- weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver- mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten. Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver- brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte
1) Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be- schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix, Nouv. France tom. III. p. 426.
2)Eyre, Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.
3) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106.
4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0294"n="276"/><fwplace="top"type="header">Der Schamanismus.</fw><lb/>
jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu-<lb/>
rufen <noteplace="foot"n="1)">Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be-<lb/>
schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. <hirendition="#g">Charlevoix,</hi><lb/>
Nouv. France tom. III. p. 426.</note>.</p><lb/><p>Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu-<lb/>
geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters-<lb/>
schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste<lb/>
herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be-<lb/>
troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein<lb/>
Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis<lb/>
in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins<lb/>
verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines<lb/>
Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos<lb/>
Menschenstämme, die wie die Australier <noteplace="foot"n="2)"><hirendition="#g">Eyre,</hi> Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.</note> freilich mit Unrecht sehr<lb/>
tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen<lb/>
versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer <noteplace="foot"n="3)">Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106.</note>, dass die Todesfälle auf-<lb/>
hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste<lb/>
verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute-<lb/>
nant Musters <noteplace="foot"n="4)">Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.</note>, dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein<lb/>
Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu-<lb/>
schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata-<lb/>
goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen<lb/>
Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen-<lb/>
schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord-<lb/>
Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die<lb/>
Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den<lb/>
Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen<lb/>
und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs-<lb/>
weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver-<lb/>
mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten.<lb/>
Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber<lb/>
bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die<lb/>
nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver-<lb/>
brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer<lb/>
Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[276/0294]
Der Schamanismus.
jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu-
rufen 1).
Wird eine Erkrankung der Fernewirkung eines Zauberers zu-
geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters-
schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste
herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be-
troffenheit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein
Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis
in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins
verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines
Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos
Menschenstämme, die wie die Australier 2) freilich mit Unrecht sehr
tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abiponen
versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer 3), dass die Todesfälle auf-
hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste
verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute-
nant Musters 4), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein
Weib ermorden liess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu-
schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata-
goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen
Hebriden, die von Papuanen bewohnt werden, einem Menschen-
schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord-
Asiaten, Amerikanern oder Süd-Afrikanern. Auch dort sind die
Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den
Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen
und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs-
weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver-
mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten.
Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber
bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die
nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver-
brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer
Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte
1) Auch in Amerika unter den Natchez des heutigen Louisiana be-
schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix,
Nouv. France tom. III. p. 426.
2) Eyre, Central-Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.
3) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 106.
4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 195.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/294>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.