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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die christlichen Lehren.
die Bitte sich noch geregt habe, für alle wirklichen Bedürfnisse
des Menschen schon gesorgt sei 1). Durch diese nothwendige
Schlussfolgerung aus der Lehre von einer gütigen Vorsehung
unterschied sich das Christenthum von allen anderen Religions-
schöpfungen. Nicht die Erfüllung des kleinsten, des heissesten,
des reinsten Herzenswunsches verspricht das Christenthum. Man
kann sich daher nicht weiter vom Ziele der ursprünglichen und
reinen Religion verirren, als wenn, da irdische Wünsche nicht
mehr zu dem himmlischen Vater empordringen sollen, eine An-
zahl polytheistischer Mittelwesen zu Fürbittern ersonnen werden
und auf einem Umwege wieder das schamanistische Gebet zurück-
kehrt.

Die Gebetworte, welche Christus seine Jünger lehrte, ent-
halten nichts weiter als eine Anleitung, gleichsam wie in einem
Spiegel, die jeweiligen sittlichen und religiösen Zustände unseres
Ichs wahrzunehmen, sich selbst zu bestärken in der Heiligung
durch die Gottesidee, in dem Wunsche, dass das Reich der christ-
lichen Anschauungen uns durchdringen möge, sowie in der Er-
innerung daran, dass Alles, was uns widerfahren mag, der Wille
einer gütigen Vorsehung ist. Es ergeht die Mahnung an uns
selbst, denen zu vergeben, die sich etwa im Unrecht gegen uns
befinden 2), endlich die Bitte, dass der christliche Glaube nicht in
uns erschüttert, sondern die Zweifel mehr und mehr zurück-
gedrängt werden mögen. Der einzige irdische Klang in diesem
Gebete ist das Erflehen des täglichen Brodes, wenn wir nicht auch
dabei uns selbst mahnen sollen, dass wir Dank schuldig sind für
jeden Tag, der uns gegönnt wird. Das Vaterunser verlangt die
höchste innre Sammlung, wenn sein Inhalt nicht spurlos durch
das menschliche Gemüth ziehen soll. So unverwüstlich aber
kehrten die schamanistischen Gelüste zurück, dass trotz der War-
nung des Religionsstifters vor gedankenlosen Wiederholungen 3),
welche der Mittheilung des Vaterunsers hart vorausgeht, es doch

1) Matth. VI, 8. Oide gar o pater umon, on khreian ekhete, pro tou
umas aitesai auton.
2) In gleichem Sinne heisst es bei Jesus Sirach (28, 2): Vergieb
Deinem Nächsten, was er Dir zu Leide gethan hat, und bitte dann, so werden
Dir Deine Sünden auch vergeben.
3) Matth. VI, 7. Me battologesete osper a ethnikoi; dokousi gar
oti en te polulogia auton eisakousthesontai.

Die christlichen Lehren.
die Bitte sich noch geregt habe, für alle wirklichen Bedürfnisse
des Menschen schon gesorgt sei 1). Durch diese nothwendige
Schlussfolgerung aus der Lehre von einer gütigen Vorsehung
unterschied sich das Christenthum von allen anderen Religions-
schöpfungen. Nicht die Erfüllung des kleinsten, des heissesten,
des reinsten Herzenswunsches verspricht das Christenthum. Man
kann sich daher nicht weiter vom Ziele der ursprünglichen und
reinen Religion verirren, als wenn, da irdische Wünsche nicht
mehr zu dem himmlischen Vater empordringen sollen, eine An-
zahl polytheistischer Mittelwesen zu Fürbittern ersonnen werden
und auf einem Umwege wieder das schamanistische Gebet zurück-
kehrt.

Die Gebetworte, welche Christus seine Jünger lehrte, ent-
halten nichts weiter als eine Anleitung, gleichsam wie in einem
Spiegel, die jeweiligen sittlichen und religiösen Zustände unseres
Ichs wahrzunehmen, sich selbst zu bestärken in der Heiligung
durch die Gottesidee, in dem Wunsche, dass das Reich der christ-
lichen Anschauungen uns durchdringen möge, sowie in der Er-
innerung daran, dass Alles, was uns widerfahren mag, der Wille
einer gütigen Vorsehung ist. Es ergeht die Mahnung an uns
selbst, denen zu vergeben, die sich etwa im Unrecht gegen uns
befinden 2), endlich die Bitte, dass der christliche Glaube nicht in
uns erschüttert, sondern die Zweifel mehr und mehr zurück-
gedrängt werden mögen. Der einzige irdische Klang in diesem
Gebete ist das Erflehen des täglichen Brodes, wenn wir nicht auch
dabei uns selbst mahnen sollen, dass wir Dank schuldig sind für
jeden Tag, der uns gegönnt wird. Das Vaterunser verlangt die
höchste innre Sammlung, wenn sein Inhalt nicht spurlos durch
das menschliche Gemüth ziehen soll. So unverwüstlich aber
kehrten die schamanistischen Gelüste zurück, dass trotz der War-
nung des Religionsstifters vor gedankenlosen Wiederholungen 3),
welche der Mittheilung des Vaterunsers hart vorausgeht, es doch

1) Matth. VI, 8. Οἶδε γὰρ ὁ πατὴρ ὑμῶν, ὧν χρείαν ἔχετε, πρὸ τοῦ
ὑμᾶς αἰτῆσαι αὐτόν.
2) In gleichem Sinne heisst es bei Jesus Sirach (28, 2): Vergieb
Deinem Nächsten, was er Dir zu Leide gethan hat, und bitte dann, so werden
Dir Deine Sünden auch vergeben.
3) Matth. VI, 7. Μὴ βαττολογήσητε ὥσπερ ἁ ἐϑνικοί· δοκοῦσι γὰρ
οτι ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὑτῶν εἰσακουσϑήσονται.
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[312/0330] Die christlichen Lehren. die Bitte sich noch geregt habe, für alle wirklichen Bedürfnisse des Menschen schon gesorgt sei 1). Durch diese nothwendige Schlussfolgerung aus der Lehre von einer gütigen Vorsehung unterschied sich das Christenthum von allen anderen Religions- schöpfungen. Nicht die Erfüllung des kleinsten, des heissesten, des reinsten Herzenswunsches verspricht das Christenthum. Man kann sich daher nicht weiter vom Ziele der ursprünglichen und reinen Religion verirren, als wenn, da irdische Wünsche nicht mehr zu dem himmlischen Vater empordringen sollen, eine An- zahl polytheistischer Mittelwesen zu Fürbittern ersonnen werden und auf einem Umwege wieder das schamanistische Gebet zurück- kehrt. Die Gebetworte, welche Christus seine Jünger lehrte, ent- halten nichts weiter als eine Anleitung, gleichsam wie in einem Spiegel, die jeweiligen sittlichen und religiösen Zustände unseres Ichs wahrzunehmen, sich selbst zu bestärken in der Heiligung durch die Gottesidee, in dem Wunsche, dass das Reich der christ- lichen Anschauungen uns durchdringen möge, sowie in der Er- innerung daran, dass Alles, was uns widerfahren mag, der Wille einer gütigen Vorsehung ist. Es ergeht die Mahnung an uns selbst, denen zu vergeben, die sich etwa im Unrecht gegen uns befinden 2), endlich die Bitte, dass der christliche Glaube nicht in uns erschüttert, sondern die Zweifel mehr und mehr zurück- gedrängt werden mögen. Der einzige irdische Klang in diesem Gebete ist das Erflehen des täglichen Brodes, wenn wir nicht auch dabei uns selbst mahnen sollen, dass wir Dank schuldig sind für jeden Tag, der uns gegönnt wird. Das Vaterunser verlangt die höchste innre Sammlung, wenn sein Inhalt nicht spurlos durch das menschliche Gemüth ziehen soll. So unverwüstlich aber kehrten die schamanistischen Gelüste zurück, dass trotz der War- nung des Religionsstifters vor gedankenlosen Wiederholungen 3), welche der Mittheilung des Vaterunsers hart vorausgeht, es doch 1) Matth. VI, 8. Οἶδε γὰρ ὁ πατὴρ ὑμῶν, ὧν χρείαν ἔχετε, πρὸ τοῦ ὑμᾶς αἰτῆσαι αὐτόν. 2) In gleichem Sinne heisst es bei Jesus Sirach (28, 2): Vergieb Deinem Nächsten, was er Dir zu Leide gethan hat, und bitte dann, so werden Dir Deine Sünden auch vergeben. 3) Matth. VI, 7. Μὴ βαττολογήσητε ὥσπερ ἁ ἐϑνικοί· δοκοῦσι γὰρ οτι ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὑτῶν εἰσακουσϑήσονται.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/330>, abgerufen am 23.12.2024.