Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.Arteneinheit des Menschengeschlechtes. fortgesetztes Ausscheiden der lebensschwachen Artgenossen unddurch beständiges Vererben der neuerworbnen günstigen Abände- rungen tritt unbemerkt ein Wechsel der Gestalten ein. Der Kern und die Neuheit des Darwinschen Dogmas besteht nur in der eben geschilderten Zuchtwahl, welche in der Natur ausgeübt werden soll. Mit Recht ist daher dieser Vorgang der Artenumwandlung von Nägeli als ein Nützlichkeitsverfahren bezeichnet worden. Als die Begeisterung für den neuen kühnen Gedanken einer kühleren Ueberlegung gewichen war, ergab sich mehr und mehr, dass eine Zuchtwahl nach den Nützlichkeitsgrundsätzen nicht immer statt- gefunden haben könne. Die Ausbildung neuer oder die Umbil- dung älterer Organe hätte sicherlich lange Zeiträume erfordert, während deren die unfertige Neuerung, wenn nicht geradezu schädlich wirken, doch jedenfalls gleichgiltig im Kampfe um das Dasein bleiben musste. Es ergab sich weiter, dass Organe früher vorhanden sein können, ehe aus ihnen Nutzen gezogen wird. Unter den Angehörigen der verschiedensten Menschenstämme be- sitzt eine Mehrzahl Stimmwerkzeuge, die sich zum Gesange treff- lich eignen, ohne dass sie musikalisch gebraucht würden 1). Die natürliche Zuchtwahl erklärt uns auch nicht, dass die Formen und Trachten der belebten Schöpfung den empfindenden Menschen in künstlerische Stimmungen versetzen. Nicht blos das Schöne, Zier- liche oder Anmuthige, sondern auch das Widerliche, Unheimliche, Lächerliche und Dämonische gewahren wir durch Thiere oder Pflanzen vertreten. Darwin hat diese Schwierigkeit in dem Buch über die Abstammung des Menschen durch einen neuen Glaubens- satz, nämlich durch die geschlechtliche Auswahl zu überwinden ge- sucht, indem die Weibchen der Thiere dasjenige Männchen be- vorzugen sollen, welches ihre Sinne am lebhaftesten reizt. Nun sind aber bei Schmetterlingen, namentlich bei Sphingiden, die Unterflügel besonders lebhaft bemalt und mit bunten Augen ge- ziert, obgleich das Thier im Sitzen den eignen Schmuck bedeckt, beim Fluge aber durch seine raschen Bewegungen jede Wahr- nehmung von Zeichnung und Farbe verhindert 2). Manche schön- 1) Es wird diess von Darwin selbst zugestanden. Abstammung des Men- schen II, 293. 2) Darwin, der nie etwas verschweigt, was ihn beunruhigt, theilt uns (Abstammung des Menschen I, 354) eine Reihe von Fällen mit, wo die Unter- Peschel, Völkerkunde. 2
Arteneinheit des Menschengeschlechtes. fortgesetztes Ausscheiden der lebensschwachen Artgenossen unddurch beständiges Vererben der neuerworbnen günstigen Abände- rungen tritt unbemerkt ein Wechsel der Gestalten ein. Der Kern und die Neuheit des Darwinschen Dogmas besteht nur in der eben geschilderten Zuchtwahl, welche in der Natur ausgeübt werden soll. Mit Recht ist daher dieser Vorgang der Artenumwandlung von Nägeli als ein Nützlichkeitsverfahren bezeichnet worden. Als die Begeisterung für den neuen kühnen Gedanken einer kühleren Ueberlegung gewichen war, ergab sich mehr und mehr, dass eine Zuchtwahl nach den Nützlichkeitsgrundsätzen nicht immer statt- gefunden haben könne. Die Ausbildung neuer oder die Umbil- dung älterer Organe hätte sicherlich lange Zeiträume erfordert, während deren die unfertige Neuerung, wenn nicht geradezu schädlich wirken, doch jedenfalls gleichgiltig im Kampfe um das Dasein bleiben musste. Es ergab sich weiter, dass Organe früher vorhanden sein können, ehe aus ihnen Nutzen gezogen wird. Unter den Angehörigen der verschiedensten Menschenstämme be- sitzt eine Mehrzahl Stimmwerkzeuge, die sich zum Gesange treff- lich eignen, ohne dass sie musikalisch gebraucht würden 1). Die natürliche Zuchtwahl erklärt uns auch nicht, dass die Formen und Trachten der belebten Schöpfung den empfindenden Menschen in künstlerische Stimmungen versetzen. Nicht blos das Schöne, Zier- liche oder Anmuthige, sondern auch das Widerliche, Unheimliche, Lächerliche und Dämonische gewahren wir durch Thiere oder Pflanzen vertreten. Darwin hat diese Schwierigkeit in dem Buch über die Abstammung des Menschen durch einen neuen Glaubens- satz, nämlich durch die geschlechtliche Auswahl zu überwinden ge- sucht, indem die Weibchen der Thiere dasjenige Männchen be- vorzugen sollen, welches ihre Sinne am lebhaftesten reizt. Nun sind aber bei Schmetterlingen, namentlich bei Sphingiden, die Unterflügel besonders lebhaft bemalt und mit bunten Augen ge- ziert, obgleich das Thier im Sitzen den eignen Schmuck bedeckt, beim Fluge aber durch seine raschen Bewegungen jede Wahr- nehmung von Zeichnung und Farbe verhindert 2). Manche schön- 1) Es wird diess von Darwin selbst zugestanden. Abstammung des Men- schen II, 293. 2) Darwin, der nie etwas verschweigt, was ihn beunruhigt, theilt uns (Abstammung des Menschen I, 354) eine Reihe von Fällen mit, wo die Unter- Peschel, Völkerkunde. 2
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durch beständiges Vererben der neuerworbnen günstigen Abände-
rungen tritt unbemerkt ein Wechsel der Gestalten ein. Der Kern
und die Neuheit des Darwinschen Dogmas besteht nur in der eben
geschilderten Zuchtwahl, welche in der Natur ausgeübt werden
soll. Mit Recht ist daher dieser Vorgang der Artenumwandlung
von Nägeli als ein Nützlichkeitsverfahren bezeichnet worden. Als
die Begeisterung für den neuen kühnen Gedanken einer kühleren
Ueberlegung gewichen war, ergab sich mehr und mehr, dass eine
Zuchtwahl nach den Nützlichkeitsgrundsätzen nicht immer statt-
gefunden haben könne. Die Ausbildung neuer oder die Umbil-
dung älterer Organe hätte sicherlich lange Zeiträume erfordert,
während deren die unfertige Neuerung, wenn nicht geradezu
schädlich wirken, doch jedenfalls gleichgiltig im Kampfe um das
Dasein bleiben musste. Es ergab sich weiter, dass Organe früher
vorhanden sein können, ehe aus ihnen Nutzen gezogen wird.
Unter den Angehörigen der verschiedensten Menschenstämme be-
sitzt eine Mehrzahl Stimmwerkzeuge, die sich zum Gesange treff-
lich eignen, ohne dass sie musikalisch gebraucht würden 1). Die
natürliche Zuchtwahl erklärt uns auch nicht, dass die Formen und
Trachten der belebten Schöpfung den empfindenden Menschen in
künstlerische Stimmungen versetzen. Nicht blos das Schöne, Zier-
liche oder Anmuthige, sondern auch das Widerliche, Unheimliche,
Lächerliche und Dämonische gewahren wir durch Thiere oder
Pflanzen vertreten. Darwin hat diese Schwierigkeit in dem Buch
über die Abstammung des Menschen durch einen neuen Glaubens-
satz, nämlich durch die geschlechtliche Auswahl zu überwinden ge-
sucht, indem die Weibchen der Thiere dasjenige Männchen be-
vorzugen sollen, welches ihre Sinne am lebhaftesten reizt. Nun
sind aber bei Schmetterlingen, namentlich bei Sphingiden, die
Unterflügel besonders lebhaft bemalt und mit bunten Augen ge-
ziert, obgleich das Thier im Sitzen den eignen Schmuck bedeckt,
beim Fluge aber durch seine raschen Bewegungen jede Wahr-
nehmung von Zeichnung und Farbe verhindert 2). Manche schön-
1) Es wird diess von Darwin selbst zugestanden. Abstammung des Men-
schen II, 293.
2) Darwin, der nie etwas verschweigt, was ihn beunruhigt, theilt uns
(Abstammung des Menschen I, 354) eine Reihe von Fällen mit, wo die Unter-
Peschel, Völkerkunde. 2
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