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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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Der Herr im Himmel sah die Thränen der
Gertrud, und hörte das Schluchzen ihres Herzens,
und das Opfer ihres Danks war ein angenehmer
Geruch vor ihm.

Gertrud weinte lang vor dem Herrn ihrem
Gott, und ihre Augen waren noch naß, als ihr
Mann heim kam.

Warum weinest du, Gertrud? Deine Augen
sind roth und naß. Warum weinest du heute,
Gertrud? fragte sie Lienhard.

Gertrud antwortete: Mein Lieber! Es sind
keine Thränen von Kummer -- fürchte dich nicht --
Ich wollte Gott danken für diese Woche, da
ward mir das Herz zu voll, ich mußte hinsinken
auf meine Knie, ich konnte nicht reden -- ich muß-
te nur weinen; aber es war mir, ich habe in mei-
nem Leben Gott nie so gedankt.

Du Liebe! antwortete Lienhard; wenn ich nur
auch mein Herz, wie du, so schnell empor [h]eben
und zu Thränen bringen könnte! Es ist mir jezt
auch gewiß Ernst recht zu thun, und gegen Gott
und Menschen redlich und dankbar zu seyn; aber
es wird mir nie so, daß ich auf meine Knie fallen
und Thränen vergiessen möchte.

Gertrud. Wenn's dir nur Ernst ist, recht zu
thun, so ist alles andre gleich viel. Der eine hat
eine schwache Stimme, und der andre eine starke;
daran liegt nichts. Nur wozu sie ein jeder braucht,

darauf
M 5

Der Herr im Himmel ſah die Thraͤnen der
Gertrud, und hoͤrte das Schluchzen ihres Herzens,
und das Opfer ihres Danks war ein angenehmer
Geruch vor ihm.

Gertrud weinte lang vor dem Herrn ihrem
Gott, und ihre Augen waren noch naß, als ihr
Mann heim kam.

Warum weineſt du, Gertrud? Deine Augen
ſind roth und naß. Warum weineſt du heute,
Gertrud? fragte ſie Lienhard.

Gertrud antwortete: Mein Lieber! Es ſind
keine Thraͤnen von Kummer — fuͤrchte dich nicht —
Ich wollte Gott danken fuͤr dieſe Woche, da
ward mir das Herz zu voll, ich mußte hinſinken
auf meine Knie, ich konnte nicht reden — ich muß-
te nur weinen; aber es war mir, ich habe in mei-
nem Leben Gott nie ſo gedankt.

Du Liebe! antwortete Lienhard; wenn ich nur
auch mein Herz, wie du, ſo ſchnell empor [h]eben
und zu Thraͤnen bringen koͤnnte! Es iſt mir jezt
auch gewiß Ernſt recht zu thun, und gegen Gott
und Menſchen redlich und dankbar zu ſeyn; aber
es wird mir nie ſo, daß ich auf meine Knie fallen
und Thraͤnen vergieſſen moͤchte.

Gertrud. Wenn’s dir nur Ernſt iſt, recht zu
thun, ſo iſt alles andre gleich viel. Der eine hat
eine ſchwache Stimme, und der andre eine ſtarke;
daran liegt nichts. Nur wozu ſie ein jeder braucht,

darauf
M 5
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[185/0210] Der Herr im Himmel ſah die Thraͤnen der Gertrud, und hoͤrte das Schluchzen ihres Herzens, und das Opfer ihres Danks war ein angenehmer Geruch vor ihm. Gertrud weinte lang vor dem Herrn ihrem Gott, und ihre Augen waren noch naß, als ihr Mann heim kam. Warum weineſt du, Gertrud? Deine Augen ſind roth und naß. Warum weineſt du heute, Gertrud? fragte ſie Lienhard. Gertrud antwortete: Mein Lieber! Es ſind keine Thraͤnen von Kummer — fuͤrchte dich nicht — Ich wollte Gott danken fuͤr dieſe Woche, da ward mir das Herz zu voll, ich mußte hinſinken auf meine Knie, ich konnte nicht reden — ich muß- te nur weinen; aber es war mir, ich habe in mei- nem Leben Gott nie ſo gedankt. Du Liebe! antwortete Lienhard; wenn ich nur auch mein Herz, wie du, ſo ſchnell empor heben und zu Thraͤnen bringen koͤnnte! Es iſt mir jezt auch gewiß Ernſt recht zu thun, und gegen Gott und Menſchen redlich und dankbar zu ſeyn; aber es wird mir nie ſo, daß ich auf meine Knie fallen und Thraͤnen vergieſſen moͤchte. Gertrud. Wenn’s dir nur Ernſt iſt, recht zu thun, ſo iſt alles andre gleich viel. Der eine hat eine ſchwache Stimme, und der andre eine ſtarke; daran liegt nichts. Nur wozu ſie ein jeder braucht, darauf M 5

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/210>, abgerufen am 21.11.2024.