den Kelch vor Schauer und Entsetzen nicht vest hielt.
Da kam Joseph in zerrissenen Stiefeln, und schlug seine Schelmenaugen vor mir zu Boden -- und meine drey Thaler! Wie's mir durch Leib und Seel schauerte, der Gedanke an meine drey Tha- ler.
Dann kam Gertrud, hub ihre Augen gen Him- mel, und dann auf den Kelch, als ob sie mich nicht sähe; als ob ich nicht da wäre. Sie hasset und verflucht mich, und richtet mich zu Grunde; und sie konnte thun, als ob sie mich nicht sähe; als ob ich nicht da wäre.
Dann kam der Mäurer, sah mich so weh- müthig an, als ob er aus tiefem Herzensgrunde zu mir sagen wollte: Verzeih mir, Vogt! Er, der mich, wenn er könnte, an Galgen bringen würde.
Dann kam auch Schabenmichel, blaß und er- schrocken wie ich, und zitterte wie ich. Denk, Frau! wie mir bey dem allem zu Muthe war. Ich fürchtete immer, auch Hans Wüst komme nach; dann hätte ich's nicht ausgehalten; der Kelch würde mir aus der Hand gefallen; Ich selbst, ich würde gewiß zu Boden gesunken seyn; ich konnte mich fast nicht mehr auf den Füssen halten. Und als ich in den Stuhl zurück kam, überfiel mich ein Zittern in meinen Gliedern, daß ich beym Singen das Buch nicht in den Händen halten konnte.
Und
den Kelch vor Schauer und Entſetzen nicht veſt hielt.
Da kam Joſeph in zerriſſenen Stiefeln, und ſchlug ſeine Schelmenaugen vor mir zu Boden — und meine drey Thaler! Wie’s mir durch Leib und Seel ſchauerte, der Gedanke an meine drey Tha- ler.
Dann kam Gertrud, hub ihre Augen gen Him- mel, und dann auf den Kelch, als ob ſie mich nicht ſaͤhe; als ob ich nicht da waͤre. Sie haſſet und verflucht mich, und richtet mich zu Grunde; und ſie konnte thun, als ob ſie mich nicht ſaͤhe; als ob ich nicht da waͤre.
Dann kam der Maͤurer, ſah mich ſo weh- muͤthig an, als ob er aus tiefem Herzensgrunde zu mir ſagen wollte: Verzeih mir, Vogt! Er, der mich, wenn er koͤnnte, an Galgen bringen wuͤrde.
Dann kam auch Schabenmichel, blaß und er- ſchrocken wie ich, und zitterte wie ich. Denk, Frau! wie mir bey dem allem zu Muthe war. Ich fuͤrchtete immer, auch Hans Wuͤſt komme nach; dann haͤtte ich’s nicht ausgehalten; der Kelch wuͤrde mir aus der Hand gefallen; Ich ſelbſt, ich wuͤrde gewiß zu Boden geſunken ſeyn; ich konnte mich faſt nicht mehr auf den Fuͤſſen halten. Und als ich in den Stuhl zuruͤck kam, uͤberfiel mich ein Zittern in meinen Gliedern, daß ich beym Singen das Buch nicht in den Haͤnden halten konnte.
Und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0249"n="224"/>
den Kelch vor Schauer und Entſetzen nicht veſt<lb/>
hielt.</p><lb/><p>Da kam Joſeph in zerriſſenen Stiefeln, und<lb/>ſchlug ſeine Schelmenaugen vor mir zu Boden —<lb/>
und meine drey Thaler! Wie’s mir durch Leib und<lb/>
Seel ſchauerte, der Gedanke an meine drey Tha-<lb/>
ler.</p><lb/><p>Dann kam Gertrud, hub ihre Augen gen Him-<lb/>
mel, und dann auf den Kelch, als ob ſie mich<lb/>
nicht ſaͤhe; als ob ich nicht da waͤre. Sie haſſet<lb/>
und verflucht mich, und richtet mich zu Grunde;<lb/>
und ſie konnte thun, als ob ſie mich nicht ſaͤhe; als<lb/>
ob ich nicht da waͤre.</p><lb/><p>Dann kam der Maͤurer, ſah mich ſo weh-<lb/>
muͤthig an, als ob er aus tiefem Herzensgrunde<lb/>
zu mir ſagen wollte: Verzeih mir, Vogt! Er, der<lb/>
mich, wenn er koͤnnte, an Galgen bringen wuͤrde.</p><lb/><p>Dann kam auch Schabenmichel, blaß und er-<lb/>ſchrocken wie ich, und zitterte wie ich. Denk,<lb/>
Frau! wie mir bey dem allem zu Muthe war.<lb/>
Ich fuͤrchtete immer, auch Hans Wuͤſt komme nach;<lb/>
dann haͤtte ich’s nicht ausgehalten; der Kelch wuͤrde<lb/>
mir aus der Hand gefallen; Ich ſelbſt, ich wuͤrde<lb/>
gewiß zu Boden geſunken ſeyn; ich konnte mich faſt<lb/>
nicht mehr auf den Fuͤſſen halten. Und als ich in<lb/>
den Stuhl zuruͤck kam, uͤberfiel mich ein Zittern<lb/>
in meinen Gliedern, daß ich beym Singen das<lb/>
Buch nicht in den Haͤnden halten konnte.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Und</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[224/0249]
den Kelch vor Schauer und Entſetzen nicht veſt
hielt.
Da kam Joſeph in zerriſſenen Stiefeln, und
ſchlug ſeine Schelmenaugen vor mir zu Boden —
und meine drey Thaler! Wie’s mir durch Leib und
Seel ſchauerte, der Gedanke an meine drey Tha-
ler.
Dann kam Gertrud, hub ihre Augen gen Him-
mel, und dann auf den Kelch, als ob ſie mich
nicht ſaͤhe; als ob ich nicht da waͤre. Sie haſſet
und verflucht mich, und richtet mich zu Grunde;
und ſie konnte thun, als ob ſie mich nicht ſaͤhe; als
ob ich nicht da waͤre.
Dann kam der Maͤurer, ſah mich ſo weh-
muͤthig an, als ob er aus tiefem Herzensgrunde
zu mir ſagen wollte: Verzeih mir, Vogt! Er, der
mich, wenn er koͤnnte, an Galgen bringen wuͤrde.
Dann kam auch Schabenmichel, blaß und er-
ſchrocken wie ich, und zitterte wie ich. Denk,
Frau! wie mir bey dem allem zu Muthe war.
Ich fuͤrchtete immer, auch Hans Wuͤſt komme nach;
dann haͤtte ich’s nicht ausgehalten; der Kelch wuͤrde
mir aus der Hand gefallen; Ich ſelbſt, ich wuͤrde
gewiß zu Boden geſunken ſeyn; ich konnte mich faſt
nicht mehr auf den Fuͤſſen halten. Und als ich in
den Stuhl zuruͤck kam, uͤberfiel mich ein Zittern
in meinen Gliedern, daß ich beym Singen das
Buch nicht in den Haͤnden halten konnte.
Und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/249>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.