Gertrud. Es ist freylich erschrecklich! aber die Verwicklungen eines gottlosen Lebens führen zu allem, auch zu dem abscheulichsten!
Lienhard seufzt. Gertrud fährt fort: Ich erin- nere mich, so lang ich lebe, an das Bild, das unser Pfarrer selig uns von der Sünde machte, da er uns das letzte Mal zum heiligen Nachtmahl vorbereitete.
Er verglich sie mit einem See, der beym an- haltenden Regen nach und nach aufschwellt. Das Steigen des See's, sagte er, ist immer unmerklich; aber es nimmt doch alle Tage und alle Stunde zu. Der See wird immer höher und höher, und die Gefahr wird gleich groß, als wenn er plötzlich und mit Sturm so aufschwellte.
Darum geht der Vernünftige und Erfahrne im Anfange zu den Wehren und Dämmen, sie zu be- sichtigen, ob sie dem Ausbruch zu steuren in Ordnung sind. Der Unerfahrne und der Unweise aber achten das Steigen des See's nicht, bis die Dämme zerris- sen, bis Felder und Wiesen verwüstet sind, und bis die Sturmglocke dem Lande aufbietet, der Verhee- rung zu wehren. So, sagte er, sey es mit der Sünde und dem Verderben, das sie anrichte.
Ich bin noch nicht alt, aber ich habe es doch schon hundertmal erfahren, daß der redliche Seel-
sorger
ben — waͤhrend der Kirche an einem heiligen Tage.
Gertrud. Es iſt freylich erſchrecklich! aber die Verwicklungen eines gottloſen Lebens fuͤhren zu allem, auch zu dem abſcheulichſten!
Lienhard ſeufzt. Gertrud faͤhrt fort: Ich erin- nere mich, ſo lang ich lebe, an das Bild, das unſer Pfarrer ſelig uns von der Suͤnde machte, da er uns das letzte Mal zum heiligen Nachtmahl vorbereitete.
Er verglich ſie mit einem See, der beym an- haltenden Regen nach und nach aufſchwellt. Das Steigen des See’s, ſagte er, iſt immer unmerklich; aber es nimmt doch alle Tage und alle Stunde zu. Der See wird immer hoͤher und hoͤher, und die Gefahr wird gleich groß, als wenn er ploͤtzlich und mit Sturm ſo aufſchwellte.
Darum geht der Vernuͤnftige und Erfahrne im Anfange zu den Wehren und Daͤmmen, ſie zu be- ſichtigen, ob ſie dem Ausbruch zu ſteuren in Ordnung ſind. Der Unerfahrne und der Unweiſe aber achten das Steigen des See’s nicht, bis die Daͤmme zerriſ- ſen, bis Felder und Wieſen verwuͤſtet ſind, und bis die Sturmglocke dem Lande aufbietet, der Verhee- rung zu wehren. So, ſagte er, ſey es mit der Suͤnde und dem Verderben, das ſie anrichte.
Ich bin noch nicht alt, aber ich habe es doch ſchon hundertmal erfahren, daß der redliche Seel-
ſorger
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ben — waͤhrend der Kirche an einem heiligen
Tage.
Gertrud. Es iſt freylich erſchrecklich! aber
die Verwicklungen eines gottloſen Lebens fuͤhren zu
allem, auch zu dem abſcheulichſten!
Lienhard ſeufzt. Gertrud faͤhrt fort: Ich erin-
nere mich, ſo lang ich lebe, an das Bild, das
unſer Pfarrer ſelig uns von der Suͤnde machte,
da er uns das letzte Mal zum heiligen Nachtmahl
vorbereitete.
Er verglich ſie mit einem See, der beym an-
haltenden Regen nach und nach aufſchwellt. Das
Steigen des See’s, ſagte er, iſt immer unmerklich;
aber es nimmt doch alle Tage und alle Stunde zu.
Der See wird immer hoͤher und hoͤher, und die
Gefahr wird gleich groß, als wenn er ploͤtzlich und
mit Sturm ſo aufſchwellte.
Darum geht der Vernuͤnftige und Erfahrne im
Anfange zu den Wehren und Daͤmmen, ſie zu be-
ſichtigen, ob ſie dem Ausbruch zu ſteuren in Ordnung
ſind. Der Unerfahrne und der Unweiſe aber achten
das Steigen des See’s nicht, bis die Daͤmme zerriſ-
ſen, bis Felder und Wieſen verwuͤſtet ſind, und bis
die Sturmglocke dem Lande aufbietet, der Verhee-
rung zu wehren. So, ſagte er, ſey es mit der Suͤnde
und dem Verderben, das ſie anrichte.
Ich bin noch nicht alt, aber ich habe es doch
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/262>, abgerufen am 23.11.2024.
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