§. 70. Ein Mann, der ein Schelm ist und ein Dieb, handelt edelmüthig, und des Mäurers Frau ist weise.
Michel, als einer der Stärksten und Verständigsten, war den ganzen Abend an der Seite des Meisters, und sah alle die herzliche Liebe und Güte, mit deren dieser auch gegen die Ungeschicktesten handelte, und Michel, der ein Schelm ist und ein Dieb, gewann den Lienhard lieb, dieses geraden, redlichen Wesens wegen, und es gieng Michel an's Herz; gegen diesen brafen, rechtschaffenen Mann wollte er kein Schelm seyn.
Aber dem Kriecher und dem frommen Marx ab der Reuti gefiel es schon nicht so wohl, daß er kei- nen Unterschied machte unter den Leuten, und so gar auch mit dem Bösewicht, dem Michel, recht freundlich wäre. Auch Lenk schüttelte den Kopf wohl hundertmal, und sprach bey sich selbst: Er ist ein Narr; nähm er Leute, die arbeiten können, wie ich und mein Bruder, er würde nicht halb so viel Mühe haben -- Aber die mehrern, die er mit Liebe und mit Gedult zur Arbeit anführte, dankten ihm von Herzensgrunde, und hie und da stiegen stille Seuf-
zer
T
§. 70. Ein Mann, der ein Schelm iſt und ein Dieb, handelt edelmuͤthig, und des Maͤurers Frau iſt weiſe.
Michel, als einer der Staͤrkſten und Verſtaͤndigſten, war den ganzen Abend an der Seite des Meiſters, und ſah alle die herzliche Liebe und Guͤte, mit deren dieſer auch gegen die Ungeſchickteſten handelte, und Michel, der ein Schelm iſt und ein Dieb, gewann den Lienhard lieb, dieſes geraden, redlichen Weſens wegen, und es gieng Michel an’s Herz; gegen dieſen brafen, rechtſchaffenen Mann wollte er kein Schelm ſeyn.
Aber dem Kriecher und dem frommen Marx ab der Reuti gefiel es ſchon nicht ſo wohl, daß er kei- nen Unterſchied machte unter den Leuten, und ſo gar auch mit dem Boͤſewicht, dem Michel, recht freundlich waͤre. Auch Lenk ſchuͤttelte den Kopf wohl hundertmal, und ſprach bey ſich ſelbſt: Er iſt ein Narr; naͤhm er Leute, die arbeiten koͤnnen, wie ich und mein Bruder, er wuͤrde nicht halb ſo viel Muͤhe haben — Aber die mehrern, die er mit Liebe und mit Gedult zur Arbeit anfuͤhrte, dankten ihm von Herzensgrunde, und hie und da ſtiegen ſtille Seuf-
zer
T
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0314"n="289"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>§. 70.<lb/><hirendition="#b">Ein Mann, der ein Schelm iſt und ein<lb/>
Dieb, handelt edelmuͤthig, und des<lb/>
Maͤurers Frau iſt weiſe.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">M</hi>ichel, als einer der Staͤrkſten und Verſtaͤndigſten,<lb/>
war den ganzen Abend an der Seite des Meiſters,<lb/>
und ſah alle die herzliche Liebe und Guͤte, mit deren<lb/>
dieſer auch gegen die Ungeſchickteſten handelte, und<lb/>
Michel, der ein Schelm iſt und ein Dieb, gewann<lb/>
den Lienhard lieb, dieſes geraden, redlichen Weſens<lb/>
wegen, und es gieng Michel an’s Herz; gegen dieſen<lb/>
brafen, rechtſchaffenen Mann wollte er kein Schelm<lb/>ſeyn.</p><lb/><p>Aber dem Kriecher und dem frommen Marx ab<lb/>
der Reuti gefiel es ſchon nicht ſo wohl, daß er kei-<lb/>
nen Unterſchied machte unter den Leuten, und ſo<lb/>
gar auch mit dem Boͤſewicht, dem Michel, recht<lb/>
freundlich waͤre. Auch Lenk ſchuͤttelte den Kopf<lb/>
wohl hundertmal, und ſprach bey ſich ſelbſt: Er<lb/>
iſt ein Narr; naͤhm er Leute, die arbeiten koͤnnen,<lb/>
wie ich und mein Bruder, er wuͤrde nicht halb ſo<lb/>
viel Muͤhe haben — Aber die mehrern, die er mit<lb/>
Liebe und mit Gedult zur Arbeit anfuͤhrte, dankten ihm<lb/>
von Herzensgrunde, und hie und da ſtiegen ſtille Seuf-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">T</fw><fwplace="bottom"type="catch">zer</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[289/0314]
§. 70.
Ein Mann, der ein Schelm iſt und ein
Dieb, handelt edelmuͤthig, und des
Maͤurers Frau iſt weiſe.
Michel, als einer der Staͤrkſten und Verſtaͤndigſten,
war den ganzen Abend an der Seite des Meiſters,
und ſah alle die herzliche Liebe und Guͤte, mit deren
dieſer auch gegen die Ungeſchickteſten handelte, und
Michel, der ein Schelm iſt und ein Dieb, gewann
den Lienhard lieb, dieſes geraden, redlichen Weſens
wegen, und es gieng Michel an’s Herz; gegen dieſen
brafen, rechtſchaffenen Mann wollte er kein Schelm
ſeyn.
Aber dem Kriecher und dem frommen Marx ab
der Reuti gefiel es ſchon nicht ſo wohl, daß er kei-
nen Unterſchied machte unter den Leuten, und ſo
gar auch mit dem Boͤſewicht, dem Michel, recht
freundlich waͤre. Auch Lenk ſchuͤttelte den Kopf
wohl hundertmal, und ſprach bey ſich ſelbſt: Er
iſt ein Narr; naͤhm er Leute, die arbeiten koͤnnen,
wie ich und mein Bruder, er wuͤrde nicht halb ſo
viel Muͤhe haben — Aber die mehrern, die er mit
Liebe und mit Gedult zur Arbeit anfuͤhrte, dankten ihm
von Herzensgrunde, und hie und da ſtiegen ſtille Seuf-
zer
T
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/314>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.