konnte, das zu seyn, und das zu geben, was er sah, daß in jedem Augenblik ihnen das beste wäre; und es war seine Gewohn- heit, gar viel und gar lange zu sehen und zu hören, was der Mensch selber suche, wünsche, denke, verstehe und seye, ehe er viel mit jemand redte. So kam es, daß er bey seinen Pfarrkindern gewohnlich, und so gar beym Kranken- und Todtbette -- völlig da saß, wie ein anderer Mensch, u. meistentheils unter allen, die da waren, am wenigsten redte. Wenn er dann aber redte, so war er auch mit ganzer Seele bey jedem Wort, das er sagte, und es war, wie wenn er in den Geist der Sterbenden hin- eindringen, aus ihm herausbringen, und ihm auf die Zunge legen könnte, was er nur wollte. Auch waren in allen Haushal- tungen die Todtbetter unvergeßlich, bey de- nen er gegenwärtig gewesen.
Er äußerte den Wunsch -- und die Vög- tin hatte das Wort schon auf der Zunge -- daß sie alle Armen, denen sie Unrecht ge- than, noch bey sich sehen mögte.
Von ihr weg gieng er heute noch zum Treufaug -- nahm aber vorher über sich, den Vogt beym Junker zu entschuldigen, wenn er diesen Abend die Armen, die seine Frau zu sehen wünschte, zu sich bitten wolle.
§. 60.
konnte, das zu ſeyn, und das zu geben, was er ſah, daß in jedem Augenblik ihnen das beſte waͤre; und es war ſeine Gewohn- heit, gar viel und gar lange zu ſehen und zu hoͤren, was der Menſch ſelber ſuche, wuͤnſche, denke, verſtehe und ſeye, ehe er viel mit jemand redte. So kam es, daß er bey ſeinen Pfarrkindern gewohnlich, und ſo gar beym Kranken- und Todtbette — voͤllig da ſaß, wie ein anderer Menſch, u. meiſtentheils unter allen, die da waren, am wenigſten redte. Wenn er dann aber redte, ſo war er auch mit ganzer Seele bey jedem Wort, das er ſagte, und es war, wie wenn er in den Geiſt der Sterbenden hin- eindringen, aus ihm herausbringen, und ihm auf die Zunge legen koͤnnte, was er nur wollte. Auch waren in allen Haushal- tungen die Todtbetter unvergeßlich, bey de- nen er gegenwaͤrtig geweſen.
Er aͤußerte den Wunſch — und die Voͤg- tin hatte das Wort ſchon auf der Zunge — daß ſie alle Armen, denen ſie Unrecht ge- than, noch bey ſich ſehen moͤgte.
Von ihr weg gieng er heute noch zum Treufaug — nahm aber vorher uͤber ſich, den Vogt beym Junker zu entſchuldigen, wenn er dieſen Abend die Armen, die ſeine Frau zu ſehen wuͤnſchte, zu ſich bitten wolle.
§. 60.
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konnte, das zu ſeyn, und das zu geben,
was er ſah, daß in jedem Augenblik ihnen
das beſte waͤre; und es war ſeine Gewohn-
heit, gar viel und gar lange zu ſehen und
zu hoͤren, was der Menſch ſelber ſuche,
wuͤnſche, denke, verſtehe und ſeye, ehe er
viel mit jemand redte. So kam es, daß
er bey ſeinen Pfarrkindern gewohnlich, und
ſo gar beym Kranken- und Todtbette —
voͤllig da ſaß, wie ein anderer Menſch, u.
meiſtentheils unter allen, die da waren, am
wenigſten redte. Wenn er dann aber redte,
ſo war er auch mit ganzer Seele bey jedem
Wort, das er ſagte, und es war, wie
wenn er in den Geiſt der Sterbenden hin-
eindringen, aus ihm herausbringen, und
ihm auf die Zunge legen koͤnnte, was er
nur wollte. Auch waren in allen Haushal-
tungen die Todtbetter unvergeßlich, bey de-
nen er gegenwaͤrtig geweſen.
Er aͤußerte den Wunſch — und die Voͤg-
tin hatte das Wort ſchon auf der Zunge —
daß ſie alle Armen, denen ſie Unrecht ge-
than, noch bey ſich ſehen moͤgte.
Von ihr weg gieng er heute noch zum
Treufaug — nahm aber vorher uͤber ſich,
den Vogt beym Junker zu entſchuldigen,
wenn er dieſen Abend die Armen, die ſeine
Frau zu ſehen wuͤnſchte, zu ſich bitten wolle.
§. 60.
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Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783/232>, abgerufen am 21.11.2024.
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