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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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Das ist nichts anders, erwiederte Gertrud,
in ein paar Wochen soll ein Kind recht spin-
nen lehrnen; ich hab welche gekannt, die es
in ein paar Tagen gelernt.

Das ist nicht was mich in dieser Stube
verwundert, sondern etwas ganz anders --
sagte der Junker -- diese fremden Kinder
sehen sint 3 oder 4 Wochen, da die Frau sich
ihrer annimmt, aus, daß ich bey Gott keines
von allen mehr gekannt hätte. Der lebendi-
ge Tod und das äusserste Elend redte aus ih-
ren Gesichteren und das ist weggewischt, daß
man keine Spuhr mehr davon stehet.

Der Lieutenant antwortete französisch --
aber was macht dann die Frau mit den Kin-
deren?

Das weiß Gott, sagte der Junker.

Und der Pfarrer: wenn man den ganzen
Tag bey ihr ist, so hört man keinen Ton und
siehet keinen Schatten der etwas besonders
scheint, man meynet immer und bey allem
was sie thut, eine jede andere Frau könnte
das auch so machen: und sicher wird es dem
gemeinsten Weib im Dorf nicht in Sinn kom-
men, sie thue etwas oder könne etwas, daß sie
nicht auch könne.

Ihr könntet nicht mehr sagen, sie in mei-
nen Augen groß zu machen, sagte der Lieute-
nant; und sezte hinzu, die Kunst endet wo

F 3

Das iſt nichts anders, erwiederte Gertrud,
in ein paar Wochen ſoll ein Kind recht ſpin-
nen lehrnen; ich hab welche gekannt, die es
in ein paar Tagen gelernt.

Das iſt nicht was mich in dieſer Stube
verwundert, ſondern etwas ganz anders —
ſagte der Junker — dieſe fremden Kinder
ſehen ſint 3 oder 4 Wochen, da die Frau ſich
ihrer annimmt, aus, daß ich bey Gott keines
von allen mehr gekannt haͤtte. Der lebendi-
ge Tod und das aͤuſſerſte Elend redte aus ih-
ren Geſichteren und das iſt weggewiſcht, daß
man keine Spuhr mehr davon ſtehet.

Der Lieutenant antwortete franzoͤſiſch —
aber was macht dann die Frau mit den Kin-
deren?

Das weiß Gott, ſagte der Junker.

Und der Pfarrer: wenn man den ganzen
Tag bey ihr iſt, ſo hoͤrt man keinen Ton und
ſiehet keinen Schatten der etwas beſonders
ſcheint, man meynet immer und bey allem
was ſie thut, eine jede andere Frau koͤnnte
das auch ſo machen: und ſicher wird es dem
gemeinſten Weib im Dorf nicht in Sinn kom-
men, ſie thue etwas oder koͤnne etwas, daß ſie
nicht auch koͤnne.

Ihr koͤnntet nicht mehr ſagen, ſie in mei-
nen Augen groß zu machen, ſagte der Lieute-
nant; und ſezte hinzu, die Kunſt endet wo

F 3
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[85/0107] Das iſt nichts anders, erwiederte Gertrud, in ein paar Wochen ſoll ein Kind recht ſpin- nen lehrnen; ich hab welche gekannt, die es in ein paar Tagen gelernt. Das iſt nicht was mich in dieſer Stube verwundert, ſondern etwas ganz anders — ſagte der Junker — dieſe fremden Kinder ſehen ſint 3 oder 4 Wochen, da die Frau ſich ihrer annimmt, aus, daß ich bey Gott keines von allen mehr gekannt haͤtte. Der lebendi- ge Tod und das aͤuſſerſte Elend redte aus ih- ren Geſichteren und das iſt weggewiſcht, daß man keine Spuhr mehr davon ſtehet. Der Lieutenant antwortete franzoͤſiſch — aber was macht dann die Frau mit den Kin- deren? Das weiß Gott, ſagte der Junker. Und der Pfarrer: wenn man den ganzen Tag bey ihr iſt, ſo hoͤrt man keinen Ton und ſiehet keinen Schatten der etwas beſonders ſcheint, man meynet immer und bey allem was ſie thut, eine jede andere Frau koͤnnte das auch ſo machen: und ſicher wird es dem gemeinſten Weib im Dorf nicht in Sinn kom- men, ſie thue etwas oder koͤnne etwas, daß ſie nicht auch koͤnne. Ihr koͤnntet nicht mehr ſagen, ſie in mei- nen Augen groß zu machen, ſagte der Lieute- nant; und ſezte hinzu, die Kunſt endet wo F 3

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/107>, abgerufen am 28.11.2024.