Sein Selbstgefühl hat keine Gränzen. Er haßt den Faden, der ihn an das Menschengeschlecht bin- det, und im Grund ist kein Fürst so stolz als er. -- Er sagte bey einem Anlaß, wann einer unter zehen Tausenden allein steht, so merken die neun Tausend neun hundert und neun und neunzig nichts weniger als daß er nicht mit ihnen Heu frißt. --
Ich durfte ihn nicht fragen, aber ich hatte es auf der Zunge, ob er mit dieser Zeile die Geschichte und die Leiden seines Lebens entworfen? --
Bey allem dem ist er gut wie ein Kind, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie wehe es ihm that, daß Gertrud um seinetwillen ihr Liseli in der Schule abgestraft. Die Schwätzerin sagte unter der Schul- thüre zu dem Knaben, dem er das Leztemal die Haare abgeschnitten: Du! -- es sind gewiß von deinen Thierchen gewesen, um derenwillen der Hr. Lieutenant hat aus dem Schloß müssen! Gertrud brachte es mit der Ruthe selber in die Schule, und hatte dasselbe so hart abgestraft, als ich es nicht von ihr erwartet, und als gewiß keine Frau im Dorf es gethan hätte. Ich mußte den Lieutenant unter einem Vorwand ins Pfarrhaus nehmen, sonst hätte er es nicht zugelassen. -- Ich muß enden. Ich schwatze, wie wenn wir einander nie mehr sehen würden, und wie wenn Sie sonst nichts zu thun hätten. Leben Sie wohl! Ich kann nicht satt
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Sein Selbſtgefuͤhl hat keine Graͤnzen. Er haßt den Faden, der ihn an das Menſchengeſchlecht bin- det, und im Grund iſt kein Fuͤrſt ſo ſtolz als er. — Er ſagte bey einem Anlaß, wann einer unter zehen Tauſenden allein ſteht, ſo merken die neun Tauſend neun hundert und neun und neunzig nichts weniger als daß er nicht mit ihnen Heu frißt. —
Ich durfte ihn nicht fragen, aber ich hatte es auf der Zunge, ob er mit dieſer Zeile die Geſchichte und die Leiden ſeines Lebens entworfen? —
Bey allem dem iſt er gut wie ein Kind, und ich kann Ihnen nicht ſagen, wie wehe es ihm that, daß Gertrud um ſeinetwillen ihr Liſeli in der Schule abgeſtraft. Die Schwaͤtzerin ſagte unter der Schul- thuͤre zu dem Knaben, dem er das Leztemal die Haare abgeſchnitten: Du! — es ſind gewiß von deinen Thierchen geweſen, um derenwillen der Hr. Lieutenant hat aus dem Schloß muͤſſen! Gertrud brachte es mit der Ruthe ſelber in die Schule, und hatte daſſelbe ſo hart abgeſtraft, als ich es nicht von ihr erwartet, und als gewiß keine Frau im Dorf es gethan haͤtte. Ich mußte den Lieutenant unter einem Vorwand ins Pfarrhaus nehmen, ſonſt haͤtte er es nicht zugelaſſen. — Ich muß enden. Ich ſchwatze, wie wenn wir einander nie mehr ſehen wuͤrden, und wie wenn Sie ſonſt nichts zu thun haͤtten. Leben Sie wohl! Ich kann nicht ſatt
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Sein Selbſtgefuͤhl hat keine Graͤnzen. Er haßt
den Faden, der ihn an das Menſchengeſchlecht bin-
det, und im Grund iſt kein Fuͤrſt ſo ſtolz als er. —
Er ſagte bey einem Anlaß, wann einer unter zehen
Tauſenden allein ſteht, ſo merken die neun Tauſend
neun hundert und neun und neunzig nichts weniger
als daß er nicht mit ihnen Heu frißt. —
Ich durfte ihn nicht fragen, aber ich hatte es
auf der Zunge, ob er mit dieſer Zeile die Geſchichte
und die Leiden ſeines Lebens entworfen? —
Bey allem dem iſt er gut wie ein Kind, und
ich kann Ihnen nicht ſagen, wie wehe es ihm that,
daß Gertrud um ſeinetwillen ihr Liſeli in der Schule
abgeſtraft. Die Schwaͤtzerin ſagte unter der Schul-
thuͤre zu dem Knaben, dem er das Leztemal die
Haare abgeſchnitten: Du! — es ſind gewiß von
deinen Thierchen geweſen, um derenwillen der Hr.
Lieutenant hat aus dem Schloß muͤſſen! Gertrud
brachte es mit der Ruthe ſelber in die Schule, und
hatte daſſelbe ſo hart abgeſtraft, als ich es nicht von
ihr erwartet, und als gewiß keine Frau im Dorf
es gethan haͤtte. Ich mußte den Lieutenant unter
einem Vorwand ins Pfarrhaus nehmen, ſonſt haͤtte
er es nicht zugelaſſen. — Ich muß enden. Ich
ſchwatze, wie wenn wir einander nie mehr ſehen
wuͤrden, und wie wenn Sie ſonſt nichts zu thun
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/57>, abgerufen am 30.11.2024.
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