Über einen Dichter reden oder schreiben, ppe_407.004 ist nie mehr als ein Herumgehen um das ppe_407.005 Unaussprechliche.
ppe_407.006
Wilhelm v. Humboldt.
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1. Lösung von der Wirklichkeit
ppe_407.008 Wenn die ältere Poetik unter Berufung auf Demokrit, Platon, ppe_407.009 Aristoteles, Horaz und Shakespeare vom schönen Wahnsinn oder der ppe_407.010 göttlichen Verrückung des Dichters zu sprechen pflegte, so war es ein ppe_407.011 Gleichnis für die Besonderheit des Genies gegenüber der Norm des ppe_407.012 Durchschnittsmenschen und für die Enthebung aus der gewöhnlichen ppe_407.013 Wirklichkeit, wodurch der Lebensvorgang von Zeugung und Geburt ppe_407.014 des Dichtwerkes in ein nicht zu enträtselndes Dunkel gerückt wurde.
ppe_407.015 Erst als die Dichter selbst auf die Beobachtung ihres Schaffens verfielen ppe_407.016 und für das Wunder, das in und mit ihnen vorging, Erklärung ppe_407.017 suchten, als sie in autobiographischen Bekenntnissen sich ihrer Antriebe ppe_407.018 und Seelenvorgänge bewußt zu werden strebten und durch ppe_407.019 Rechenschaft darüber den Biographen Material für die innere Entstehungsgeschichte ppe_407.020 ihrer Werke zur Hand gaben, konnte die Dichtungslehre ppe_407.021 dem Wesen schöpferischer Einbildungskraft mit Einblick ppe_407.022 in allgemeingültige oder typische Vorgänge näher kommen. Die Poetik ppe_407.023 sah von da an ihre Aufgabe nicht mehr darin, Regeln für das ppe_407.024 Schaffen aufzustellen, die aus der äußeren Form abgeleitet waren; ppe_407.025 sondern nun ergaben sich Möglichkeiten, aus den schöpferischen ppe_407.026 Innenvorgängen, wie sie der Dichter selbst beschrieb, etwas über die ppe_407.027 Gesetzmäßigkeit des Verlaufs zu ermitteln.
ppe_407.028 Der Zeitpunkt, in dem diese Umstellung von normativer zu induktiver ppe_407.029 Dichtungslehre begann, liegt um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. ppe_407.030 Für England nimmt Brandl an, daß die biographischen ppe_407.031 Werke Samuel Johnsons allerlei dichterische Selbstbeobachtungen ppe_407.032 und Selbstbekenntnis nach sich zogen; in Frankreich mögen Rousseaus ppe_407.033 "Confessions" nach dieser Richtung vorbildliche Wirkung gehabt ppe_407.034 haben; in Deutschland wurde durch Karl Friedrich Cramers viel ppe_407.035 verspottetes Werk "Klopstock. Er und über ihn" (1782 bis 1793) wie
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DRITTER HAUPTTEIL
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DER SCHAFFENSVORGANG
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Über einen Dichter reden oder schreiben, ppe_407.004 ist nie mehr als ein Herumgehen um das ppe_407.005 Unaussprechliche.
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Wilhelm v. Humboldt.
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1. Lösung von der Wirklichkeit
ppe_407.008 Wenn die ältere Poetik unter Berufung auf Demokrit, Platon, ppe_407.009 Aristoteles, Horaz und Shakespeare vom schönen Wahnsinn oder der ppe_407.010 göttlichen Verrückung des Dichters zu sprechen pflegte, so war es ein ppe_407.011 Gleichnis für die Besonderheit des Genies gegenüber der Norm des ppe_407.012 Durchschnittsmenschen und für die Enthebung aus der gewöhnlichen ppe_407.013 Wirklichkeit, wodurch der Lebensvorgang von Zeugung und Geburt ppe_407.014 des Dichtwerkes in ein nicht zu enträtselndes Dunkel gerückt wurde.
ppe_407.015 Erst als die Dichter selbst auf die Beobachtung ihres Schaffens verfielen ppe_407.016 und für das Wunder, das in und mit ihnen vorging, Erklärung ppe_407.017 suchten, als sie in autobiographischen Bekenntnissen sich ihrer Antriebe ppe_407.018 und Seelenvorgänge bewußt zu werden strebten und durch ppe_407.019 Rechenschaft darüber den Biographen Material für die innere Entstehungsgeschichte ppe_407.020 ihrer Werke zur Hand gaben, konnte die Dichtungslehre ppe_407.021 dem Wesen schöpferischer Einbildungskraft mit Einblick ppe_407.022 in allgemeingültige oder typische Vorgänge näher kommen. Die Poetik ppe_407.023 sah von da an ihre Aufgabe nicht mehr darin, Regeln für das ppe_407.024 Schaffen aufzustellen, die aus der äußeren Form abgeleitet waren; ppe_407.025 sondern nun ergaben sich Möglichkeiten, aus den schöpferischen ppe_407.026 Innenvorgängen, wie sie der Dichter selbst beschrieb, etwas über die ppe_407.027 Gesetzmäßigkeit des Verlaufs zu ermitteln.
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Der Zeitpunkt, in dem diese Umstellung von normativer zu induktiver ppe_407.029
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/431>, abgerufen am 22.11.2024.
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