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Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

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neuerdings wieder beliebte Erklärung der Völkertypen und ihrer
Unterschiede lediglich aus äußeren Zufälligkeiten der Nahrung oder
doch nur aus äußeren Mitbedingungen klimatischer und überhaupt
geographischer Art scheint eben doch mit Hartnäckigkeit die Ober¬
fläche für den Kern zu halten. Woher kommt es denn, daß Kin¬
der derselben Eltern, aufwachsend im gleichen Haus, unter der¬
selben Sonne, mit identischer materieller wie ideeller Nahrung
dennoch sich körperlich und geistig zu scharf ausgeprägten Indi¬
viduen differenziren? Fast scheint es, als ob das Bildlungsgesetz
der Natur ein ziemlich anderes wäre, als das der "naturwissen¬
schaftlichen Methode in der Geschichtsbetrachtung".

So müssen wir denn auch die Nationalitäten als derartige
Individuen höheren Grads betrachten, welche je als "tellurische
Kunstwerke" (wie Schleiermacher sagt) aus der verborgenen Werk¬
statt hervorgehen, um sich ihre geographisch-geschichtlichen Verhält¬
nisse entweder zu suchen und zu machen, oder sich ihnen harmonisch
anzuschmiegen, damit sie die ihnen gewordene eigenartige Geschichts¬
mission nach Kräften erfüllen. Aber eben als individuelle Aus¬
prägungen der allgemeinen Menschennatur deuten nun doch auch
sie durch ihre natürlichen Schranken oder Mängel auf andere
Volksindividualitäten zu ihrer nothwendigen Ergänzung hin. Ob¬
wohl der Abstand der einzelnen Stämme weit geringer ist, als
der zwischen den verschiedenen Nationen, dürfen wir trotzdem hier
nicht stehen bleiben, als wäre diese Kluft irgend eine absolute
Scheidewand. Je besser es Einer mit seinem eigenen Volke meint,
desto weniger wird er entweder in chauvinistischem Heißhunger
nach Stoffüberfüllung mit fremdartigen Elementen trachten, die
den eigenen Organismus nur schädigend beschweren, oder aber in
bornirter Weise durch eine chinesische Mauer seine eigene Nation
von Licht und Luft der Anderen abgesperrt sehen wollen.

Auch im Kulturprozeß und unter den einzelnen, zu je einer

neuerdings wieder beliebte Erklärung der Völkertypen und ihrer
Unterſchiede lediglich aus äußeren Zufälligkeiten der Nahrung oder
doch nur aus äußeren Mitbedingungen klimatiſcher und überhaupt
geographiſcher Art ſcheint eben doch mit Hartnäckigkeit die Ober¬
fläche für den Kern zu halten. Woher kommt es denn, daß Kin¬
der derſelben Eltern, aufwachſend im gleichen Haus, unter der¬
ſelben Sonne, mit identiſcher materieller wie ideeller Nahrung
dennoch ſich körperlich und geiſtig zu ſcharf ausgeprägten Indi¬
viduen differenziren? Faſt ſcheint es, als ob das Bildlungsgeſetz
der Natur ein ziemlich anderes wäre, als das der „naturwiſſen¬
ſchaftlichen Methode in der Geſchichtsbetrachtung“.

So müſſen wir denn auch die Nationalitäten als derartige
Individuen höheren Grads betrachten, welche je als „telluriſche
Kunſtwerke“ (wie Schleiermacher ſagt) aus der verborgenen Werk¬
ſtatt hervorgehen, um ſich ihre geographiſch-geſchichtlichen Verhält¬
niſſe entweder zu ſuchen und zu machen, oder ſich ihnen harmoniſch
anzuſchmiegen, damit ſie die ihnen gewordene eigenartige Geſchichts¬
miſſion nach Kräften erfüllen. Aber eben als individuelle Aus¬
prägungen der allgemeinen Menſchennatur deuten nun doch auch
ſie durch ihre natürlichen Schranken oder Mängel auf andere
Volksindividualitäten zu ihrer nothwendigen Ergänzung hin. Ob¬
wohl der Abſtand der einzelnen Stämme weit geringer iſt, als
der zwiſchen den verſchiedenen Nationen, dürfen wir trotzdem hier
nicht ſtehen bleiben, als wäre dieſe Kluft irgend eine abſolute
Scheidewand. Je beſſer es Einer mit ſeinem eigenen Volke meint,
deſto weniger wird er entweder in chauviniſtiſchem Heißhunger
nach Stoffüberfüllung mit fremdartigen Elementen trachten, die
den eigenen Organismus nur ſchädigend beſchweren, oder aber in
bornirter Weiſe durch eine chineſiſche Mauer ſeine eigene Nation
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[32/0042] neuerdings wieder beliebte Erklärung der Völkertypen und ihrer Unterſchiede lediglich aus äußeren Zufälligkeiten der Nahrung oder doch nur aus äußeren Mitbedingungen klimatiſcher und überhaupt geographiſcher Art ſcheint eben doch mit Hartnäckigkeit die Ober¬ fläche für den Kern zu halten. Woher kommt es denn, daß Kin¬ der derſelben Eltern, aufwachſend im gleichen Haus, unter der¬ ſelben Sonne, mit identiſcher materieller wie ideeller Nahrung dennoch ſich körperlich und geiſtig zu ſcharf ausgeprägten Indi¬ viduen differenziren? Faſt ſcheint es, als ob das Bildlungsgeſetz der Natur ein ziemlich anderes wäre, als das der „naturwiſſen¬ ſchaftlichen Methode in der Geſchichtsbetrachtung“. So müſſen wir denn auch die Nationalitäten als derartige Individuen höheren Grads betrachten, welche je als „telluriſche Kunſtwerke“ (wie Schleiermacher ſagt) aus der verborgenen Werk¬ ſtatt hervorgehen, um ſich ihre geographiſch-geſchichtlichen Verhält¬ niſſe entweder zu ſuchen und zu machen, oder ſich ihnen harmoniſch anzuſchmiegen, damit ſie die ihnen gewordene eigenartige Geſchichts¬ miſſion nach Kräften erfüllen. Aber eben als individuelle Aus¬ prägungen der allgemeinen Menſchennatur deuten nun doch auch ſie durch ihre natürlichen Schranken oder Mängel auf andere Volksindividualitäten zu ihrer nothwendigen Ergänzung hin. Ob¬ wohl der Abſtand der einzelnen Stämme weit geringer iſt, als der zwiſchen den verſchiedenen Nationen, dürfen wir trotzdem hier nicht ſtehen bleiben, als wäre dieſe Kluft irgend eine abſolute Scheidewand. Je beſſer es Einer mit ſeinem eigenen Volke meint, deſto weniger wird er entweder in chauviniſtiſchem Heißhunger nach Stoffüberfüllung mit fremdartigen Elementen trachten, die den eigenen Organismus nur ſchädigend beſchweren, oder aber in bornirter Weiſe durch eine chineſiſche Mauer ſeine eigene Nation von Licht und Luft der Anderen abgeſperrt ſehen wollen. Auch im Kulturprozeß und unter den einzelnen, zu je einer

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Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/42>, abgerufen am 21.11.2024.