Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.Vorzug der kriechenden Poesie Berges, oder Thrones, und wenn sie von dain die tiefen Thäler herab schauen, kömmt ihnen alles, was darinn ist, wie kleines Gewürme vor. Die hohen Begriffe, die sie sich von den Sachen machen, verleiten sie leicht, auch von sich selbst und ihrer ausnehmenden Geschicklich- keit sehr hohe Gedanken zu fassen. Was wis- sen sie sich nicht gemeiniglich, wenn sie zumal eine große Leibes-Länge, wie der erhabene Poete zu Leipzig, haben, für ein grand air zu geben, wenn sie auf der Straße gehen, daß man auch sie für würdige Modelle angesehen, sie auf öffentlicher Schaubühne, zur Nachahmung eines großmüthigen Ganges und hochinto- nirter Geberden, aufzuführen. Es sind die erhabenen Poeten großentheils stolze Geister, und wenn ein Stein wäre, der ihnen im Wurf läge, sie machten eher eine Capriole drüber hin- weg, als aus dem Tummelplatze ihrer hohen Gedanken zu schreiten. § 12. Von diesen gefährlichen Versuchun- seines
Vorzug der kriechenden Poeſie Berges, oder Thrones, und wenn ſie von dain die tiefen Thaͤler herab ſchauen, koͤmmt ihnen alles, was darinn iſt, wie kleines Gewuͤrme vor. Die hohen Begriffe, die ſie ſich von den Sachen machen, verleiten ſie leicht, auch von ſich ſelbſt und ihrer ausnehmenden Geſchicklich- keit ſehr hohe Gedanken zu faſſen. Was wiſ- ſen ſie ſich nicht gemeiniglich, wenn ſie zumal eine große Leibes-Laͤnge, wie der erhabene Poete zu Leipzig, haben, fuͤr ein grand air zu geben, wenn ſie auf der Straße gehen, daß man auch ſie fuͤr wuͤrdige Modelle angeſehen, ſie auf oͤffentlicher Schaubuͤhne, zur Nachahmung eines großmuͤthigen Ganges und hochinto- nirter Geberden, aufzufuͤhren. Es ſind die erhabenen Poeten großentheils ſtolze Geiſter, und wenn ein Stein waͤre, der ihnen im Wurf laͤge, ſie machten eher eine Capriole druͤber hin- weg, als aus dem Tummelplatze ihrer hohen Gedanken zu ſchreiten. § 12. Von dieſen gefaͤhrlichen Verſuchun- ſeines
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Vorzug der kriechenden Poeſie
Berges, oder Thrones, und wenn ſie von da
in die tiefen Thaͤler herab ſchauen, koͤmmt ihnen
alles, was darinn iſt, wie kleines Gewuͤrme
vor. Die hohen Begriffe, die ſie ſich von den
Sachen machen, verleiten ſie leicht, auch von
ſich ſelbſt und ihrer ausnehmenden Geſchicklich-
keit ſehr hohe Gedanken zu faſſen. Was wiſ-
ſen ſie ſich nicht gemeiniglich, wenn ſie zumal
eine große Leibes-Laͤnge, wie der erhabene
Poete zu Leipzig, haben, fuͤr ein grand air zu
geben, wenn ſie auf der Straße gehen, daß man
auch ſie fuͤr wuͤrdige Modelle angeſehen, ſie
auf oͤffentlicher Schaubuͤhne, zur Nachahmung
eines großmuͤthigen Ganges und hochinto-
nirter Geberden, aufzufuͤhren. Es ſind die
erhabenen Poeten großentheils ſtolze Geiſter,
und wenn ein Stein waͤre, der ihnen im Wurf
laͤge, ſie machten eher eine Capriole druͤber hin-
weg, als aus dem Tummelplatze ihrer hohen
Gedanken zu ſchreiten.
§ 12. Von dieſen gefaͤhrlichen Verſuchun-
gen nun, ſich in der Hoͤhe ſeiner Gedanken zu
uͤberſteigen, und von derſelben, als auf der Spitze
eines jaͤhen Felſen, auf die niedrigen mit Ver-
achtung herab zu ſchauen, ſind die kriechenden
Poeten ſehr geſichert, mithin haben ſie vor den
erhabenen einen beſondern Vorzug. Denn
wie ſollte ſich einer, der auf der Erde kriechet,
einbilden, er ſchwebe hoch in der Luft? Er
muͤßte ſeines Verſtandes beraubet ſeyn, wenn
er die Tiefe fuͤr eine Hoͤhe, und den Abgrund
ſeines
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Zitationshilfe: | Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/142>, abgerufen am 16.02.2025. |