zwischen Herr und Knecht. Die Maschine besorgte vieles, wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbesitzer stand kaum noch in einem persönlichen Verhältnis zu seinem Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen; vom wirklichen Ackerbau verstand er vielleicht gar nichts. Die Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬ amten bewacht wurden. Der Grundbesitzer schien hier kaum noch eine Person; hinter ihm standen andere Mächte: die Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwischen den Besitzer und sein Stück Erde traten.
Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Gustav Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häschke auf der Walze gewesen. Da hatte er den fünften Stand kennen gelernt, das unheimliche Heer der Obdachlosen, der Aus¬ gestoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬ sellschaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬ artige Welt hatte er da geblickt. Diese Menschenklasse, auf die der Bauernsohn als auf Landstreicher und Verbrecher herab¬ geblickt hatte, waren eine Zunft für sich, besaßen ihre eigene Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre sogar.
Und wo stammten die meisten von ihnen her? Von bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege gewesen. Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutschen Bauern die Freiheit schenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß die Enkel des seßhaftesten Standes nach wenigen Generationen die Landstraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit war für viele das gewesen, was ein starker Luftzug für einen schwächlichen Körper ist. Freiheit hatten diese Unglücklichen nur allzuviel; sie waren vogelfrei. Losgerissenen Blättern glichen sie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬ stücke der modernen Gesellschaft! Treibendes Holz auf den Wogen des Wirtschaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu treiben.
Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand
zwiſchen Herr und Knecht. Die Maſchine beſorgte vieles, wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbeſitzer ſtand kaum noch in einem perſönlichen Verhältnis zu ſeinem Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen; vom wirklichen Ackerbau verſtand er vielleicht gar nichts. Die Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬ amten bewacht wurden. Der Grundbeſitzer ſchien hier kaum noch eine Perſon; hinter ihm ſtanden andere Mächte: die Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwiſchen den Beſitzer und ſein Stück Erde traten.
Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Guſtav Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häſchke auf der Walze geweſen. Da hatte er den fünften Stand kennen gelernt, das unheimliche Heer der Obdachloſen, der Aus¬ geſtoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬ ſellſchaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬ artige Welt hatte er da geblickt. Dieſe Menſchenklaſſe, auf die der Bauernſohn als auf Landſtreicher und Verbrecher herab¬ geblickt hatte, waren eine Zunft für ſich, beſaßen ihre eigene Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre ſogar.
Und wo ſtammten die meiſten von ihnen her? Von bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege geweſen. Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutſchen Bauern die Freiheit ſchenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß die Enkel des ſeßhafteſten Standes nach wenigen Generationen die Landſtraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit war für viele das geweſen, was ein ſtarker Luftzug für einen ſchwächlichen Körper iſt. Freiheit hatten dieſe Unglücklichen nur allzuviel; ſie waren vogelfrei. Losgeriſſenen Blättern glichen ſie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬ ſtücke der modernen Geſellſchaft! Treibendes Holz auf den Wogen des Wirtſchaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu treiben.
Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0376"n="362"/>
zwiſchen Herr und Knecht. Die Maſchine beſorgte vieles,<lb/>
wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbeſitzer<lb/>ſtand kaum noch in einem perſönlichen Verhältnis zu ſeinem<lb/>
Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war<lb/>
mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen;<lb/>
vom wirklichen Ackerbau verſtand er vielleicht gar nichts. Die<lb/>
Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬<lb/>
amten bewacht wurden. Der Grundbeſitzer ſchien hier kaum<lb/>
noch eine Perſon; hinter ihm ſtanden andere Mächte: die<lb/>
Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwiſchen den Beſitzer und<lb/>ſein Stück Erde traten.</p><lb/><p>Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Guſtav<lb/>
Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häſchke auf<lb/>
der Walze geweſen. Da hatte er den fünften Stand kennen<lb/>
gelernt, das unheimliche Heer der Obdachloſen, der Aus¬<lb/>
geſtoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬<lb/>ſellſchaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬<lb/>
artige Welt hatte er da geblickt. Dieſe Menſchenklaſſe, auf die<lb/>
der Bauernſohn als auf Landſtreicher und Verbrecher herab¬<lb/>
geblickt hatte, waren eine Zunft für ſich, beſaßen ihre eigene<lb/>
Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre ſogar.</p><lb/><p>Und wo ſtammten die meiſten von ihnen her? Von<lb/>
bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege geweſen.<lb/>
Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutſchen<lb/>
Bauern die Freiheit ſchenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß<lb/>
die Enkel des ſeßhafteſten Standes nach wenigen Generationen<lb/>
die Landſtraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit<lb/>
war für viele das geweſen, was ein ſtarker Luftzug für einen<lb/>ſchwächlichen Körper iſt. Freiheit hatten dieſe Unglücklichen<lb/>
nur allzuviel; ſie waren vogelfrei. Losgeriſſenen Blättern<lb/>
glichen ſie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬<lb/>ſtücke der modernen Geſellſchaft! Treibendes Holz auf den<lb/>
Wogen des Wirtſchaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem<lb/>
Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu<lb/>
treiben.</p><lb/><p>Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[362/0376]
zwiſchen Herr und Knecht. Die Maſchine beſorgte vieles,
wozu man daheim viele Hände brauchte. Der Grundbeſitzer
ſtand kaum noch in einem perſönlichen Verhältnis zu ſeinem
Boden; Landmann konnte man ihn nicht mehr nennen. Er war
mehr mit einem Kaufmann oder Unternehmer zu vergleichen;
vom wirklichen Ackerbau verſtand er vielleicht gar nichts. Die
Bodenarbeit überließ er den fremden Arbeitern, die von Be¬
amten bewacht wurden. Der Grundbeſitzer ſchien hier kaum
noch eine Perſon; hinter ihm ſtanden andere Mächte: die
Fabrik, die Aktie, das Kapital, die zwiſchen den Beſitzer und
ſein Stück Erde traten.
Und in eine ganz andere Welt wiederum hatte Guſtav
Einblick gewonnen, während der Tage, die er mit Häſchke auf
der Walze geweſen. Da hatte er den fünften Stand kennen
gelernt, das unheimliche Heer der Obdachloſen, der Aus¬
geſtoßenen, der Verkommenen, die hinter der bürgerlichen Ge¬
ſellſchaft als ein neuer Stand heranrücken. In eine eigen¬
artige Welt hatte er da geblickt. Dieſe Menſchenklaſſe, auf die
der Bauernſohn als auf Landſtreicher und Verbrecher herab¬
geblickt hatte, waren eine Zunft für ſich, beſaßen ihre eigene
Sprache, ihre Gebräuche, ihre Standesehre ſogar.
Und wo ſtammten die meiſten von ihnen her? Von
bäuerlichen Vorfahren. Das Land war ihre Wiege geweſen.
Die Männer, die im Anfange des Jahrhunderts dem deutſchen
Bauern die Freiheit ſchenkten, hatten wohl nicht gedacht, daß
die Enkel des ſeßhafteſten Standes nach wenigen Generationen
die Landſtraße bevölkern würden. Die Gabe der Freizügigkeit
war für viele das geweſen, was ein ſtarker Luftzug für einen
ſchwächlichen Körper iſt. Freiheit hatten dieſe Unglücklichen
nur allzuviel; ſie waren vogelfrei. Losgeriſſenen Blättern
glichen ſie, die verloren umhergewirbelt werden. Trümmer¬
ſtücke der modernen Geſellſchaft! Treibendes Holz auf den
Wogen des Wirtſchaftslebens! Entwurzelt, ausgerodet aus dem
Heimatsboden, und nun unfähig, irgendwo neue Wurzeln zu
treiben.
Nicht alle waren verdorbene Landleute. Jeder Stand
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Polenz, Wilhelm von: Der Büttnerbauer. Berlin, 1895, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/polenz_buettnerbauer_1895/376>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.