ganz kahle ungeheure Felsenmasse. Von der Land- seite bildet er zwei steile Absätze, zwischen welchen sich, auf dem Plateau, ein See befindet, den man natürlich von unten nicht sieht, wo das Ganze nur die fortlaufende Linie zwei colossaler Terrassen dar- bietet. Die obere besteht aus ganz kahlem Stein, und wird in der Mitte, durch eine vertikale, wie von der Kunst tief gegrabne Rinne getrennt; die untere Terrasse, obgleich auch ohne sehr sichtbare Unebenheit, ist doch an ihrem Abhang mit Haiden und grobem Grase bedeckt, wo gewöhnlich Hunderte von Ziegen weiden.
In der erwähnten obern Rinne nun, ergießt sich, von der höchsten Spitze des Bergs, die Wassermasse herab, fällt in den, auf dem Absatz befindlichen, See, und stürzt sich dann, diesen überfüllend, in vier getrennten Fällen von neuem, in so großen Bo- gen, auf die Thalwiese nieder, daß die Ziegen ruhig darunter fortweiden können, während die Wasser- ströme das Wiesenthal in der Tiefe bald auch in ei- nen temperairen See verwandeln.
Da man unten stehend, die Trennung des obern und der untern Fälle, nebst den zwischen liegenden See, wie schon bemerkt, nicht sehen kann, erscheint dem Auge das Ganze, nur wie ein ungeheurer Sturz, dessen Wirkung alle Beschreibung übersteigt. Obrist W. versicherte mich, bei höchstem Wasser- stande, die Bogen des Falles so weit abgeschleudert
ganz kahle ungeheure Felſenmaſſe. Von der Land- ſeite bildet er zwei ſteile Abſätze, zwiſchen welchen ſich, auf dem Plateau, ein See befindet, den man natürlich von unten nicht ſieht, wo das Ganze nur die fortlaufende Linie zwei coloſſaler Terraſſen dar- bietet. Die obere beſteht aus ganz kahlem Stein, und wird in der Mitte, durch eine vertikale, wie von der Kunſt tief gegrabne Rinne getrennt; die untere Terraſſe, obgleich auch ohne ſehr ſichtbare Unebenheit, iſt doch an ihrem Abhang mit Haiden und grobem Graſe bedeckt, wo gewöhnlich Hunderte von Ziegen weiden.
In der erwähnten obern Rinne nun, ergießt ſich, von der höchſten Spitze des Bergs, die Waſſermaſſe herab, fällt in den, auf dem Abſatz befindlichen, See, und ſtürzt ſich dann, dieſen überfüllend, in vier getrennten Fällen von neuem, in ſo großen Bo- gen, auf die Thalwieſe nieder, daß die Ziegen ruhig darunter fortweiden können, während die Waſſer- ſtröme das Wieſenthal in der Tiefe bald auch in ei- nen temperairen See verwandeln.
Da man unten ſtehend, die Trennung des obern und der untern Fälle, nebſt den zwiſchen liegenden See, wie ſchon bemerkt, nicht ſehen kann, erſcheint dem Auge das Ganze, nur wie ein ungeheurer Sturz, deſſen Wirkung alle Beſchreibung überſteigt. Obriſt W. verſicherte mich, bei höchſtem Waſſer- ſtande, die Bogen des Falles ſo weit abgeſchleudert
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ganz kahle ungeheure Felſenmaſſe. Von der Land-
ſeite bildet er zwei ſteile Abſätze, zwiſchen welchen
ſich, auf dem Plateau, ein See befindet, den man
natürlich von unten nicht ſieht, wo das Ganze nur
die fortlaufende Linie zwei coloſſaler Terraſſen dar-
bietet. Die obere beſteht aus ganz kahlem Stein,
und wird in der Mitte, durch eine vertikale, wie
von der Kunſt tief gegrabne Rinne getrennt; die
untere Terraſſe, obgleich auch ohne ſehr ſichtbare
Unebenheit, iſt doch an ihrem Abhang mit Haiden
und grobem Graſe bedeckt, wo gewöhnlich Hunderte
von Ziegen weiden.
In der erwähnten obern Rinne nun, ergießt ſich,
von der höchſten Spitze des Bergs, die Waſſermaſſe
herab, fällt in den, auf dem Abſatz befindlichen,
See, und ſtürzt ſich dann, dieſen überfüllend, in
vier getrennten Fällen von neuem, in ſo großen Bo-
gen, auf die Thalwieſe nieder, daß die Ziegen ruhig
darunter fortweiden können, während die Waſſer-
ſtröme das Wieſenthal in der Tiefe bald auch in ei-
nen temperairen See verwandeln.
Da man unten ſtehend, die Trennung des obern
und der untern Fälle, nebſt den zwiſchen liegenden
See, wie ſchon bemerkt, nicht ſehen kann, erſcheint
dem Auge das Ganze, nur wie ein ungeheurer
Sturz, deſſen Wirkung alle Beſchreibung überſteigt.
Obriſt W. verſicherte mich, bei höchſtem Waſſer-
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/53>, abgerufen am 22.11.2024.
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