als in dem religiösen und decenten England. Dies geht so weit, daß man sich oft im Theater dieser widrigen Venus-Priesterinnen, besonders wenn sie betrunken sind, was nicht selten der Fall ist, kaum erwehren kann, wobei sie auch auf die unverschäm- teste Weise betteln, so daß man oft das hübscheste und bestgekleidetste junge Mädchen sieht, die nicht verschmäht, einen Schilling oder Sixpence, gleich der niedrigsten Bettlerin, anzunehmen, um am Büffet ein halbes Glas Rum oder Gingerbeer dafür zu trinken -- und so etwas geht, ich wiederhole es, in dem Nationaltheater der Engländer vor, wo ihre höchsten dramatischen Talente sich entwickeln sollen, wo unsterbliche Künstler, wie Garrik, Mrs. Sid- dons, Miß Oneil, durch ihre Vortrefflichkeit entzück- ten, und wo noch jetzt Heroen wie Kean, Kemble und Young auftreten! Ist das nicht im höchsten Grade unwürdig, und alles zusammen ein neuer schlagender Beweis, daß Napoleon nicht Unrecht hatte, wenn er die Engländer eine Nation prosaischer Shop- keepers nannte? Wenigstens kann man ihr im All- gemeinen wahre Kunstliebe keck absprechen, weßhalb auch die Rohheiten, von denen ich früher sprach, fast nie aus irgend einer Theilnahme an der Dar- stellung selbst entstehen (denn höchstens betreffen sie eine persönliche Intrigue gegen oder für einen Schau- spieler) sondern fast immer nur ein ganz fremdes Motiv haben, das mit der Bühne nicht im Min- desten concurrirt.
als in dem religiöſen und decenten England. Dies geht ſo weit, daß man ſich oft im Theater dieſer widrigen Venus-Prieſterinnen, beſonders wenn ſie betrunken ſind, was nicht ſelten der Fall iſt, kaum erwehren kann, wobei ſie auch auf die unverſchäm- teſte Weiſe betteln, ſo daß man oft das hübſcheſte und beſtgekleidetſte junge Mädchen ſieht, die nicht verſchmäht, einen Schilling oder Sixpence, gleich der niedrigſten Bettlerin, anzunehmen, um am Büffet ein halbes Glas Rum oder Gingerbeer dafür zu trinken — und ſo etwas geht, ich wiederhole es, in dem Nationaltheater der Engländer vor, wo ihre höchſten dramatiſchen Talente ſich entwickeln ſollen, wo unſterbliche Künſtler, wie Garrik, Mrs. Sid- dons, Miß Oneil, durch ihre Vortrefflichkeit entzück- ten, und wo noch jetzt Heroen wie Kean, Kemble und Young auftreten! Iſt das nicht im höchſten Grade unwürdig, und alles zuſammen ein neuer ſchlagender Beweis, daß Napoleon nicht Unrecht hatte, wenn er die Engländer eine Nation proſaiſcher Shop- keepers nannte? Wenigſtens kann man ihr im All- gemeinen wahre Kunſtliebe keck abſprechen, weßhalb auch die Rohheiten, von denen ich früher ſprach, faſt nie aus irgend einer Theilnahme an der Dar- ſtellung ſelbſt entſtehen (denn höchſtens betreffen ſie eine perſönliche Intrigue gegen oder für einen Schau- ſpieler) ſondern faſt immer nur ein ganz fremdes Motiv haben, das mit der Bühne nicht im Min- deſten concurrirt.
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als in dem religiöſen und decenten England. Dies
geht ſo weit, daß man ſich oft im Theater dieſer
widrigen Venus-Prieſterinnen, beſonders wenn ſie
betrunken ſind, was nicht ſelten der Fall iſt, kaum
erwehren kann, wobei ſie auch auf die unverſchäm-
teſte Weiſe betteln, ſo daß man oft das hübſcheſte
und beſtgekleidetſte junge Mädchen ſieht, die nicht
verſchmäht, einen Schilling oder Sixpence, gleich der
niedrigſten Bettlerin, anzunehmen, um am Büffet
ein halbes Glas Rum oder Gingerbeer dafür zu
trinken — und ſo etwas geht, ich wiederhole es, in
dem Nationaltheater der Engländer vor, wo ihre
höchſten dramatiſchen Talente ſich entwickeln ſollen,
wo unſterbliche Künſtler, wie Garrik, Mrs. Sid-
dons, Miß Oneil, durch ihre Vortrefflichkeit entzück-
ten, und wo noch jetzt Heroen wie Kean, Kemble
und Young auftreten! Iſt das nicht im höchſten
Grade unwürdig, und alles zuſammen ein neuer
ſchlagender Beweis, daß Napoleon nicht Unrecht hatte,
wenn er die Engländer eine Nation proſaiſcher Shop-
keepers nannte? Wenigſtens kann man ihr im All-
gemeinen wahre Kunſtliebe keck abſprechen, weßhalb
auch die Rohheiten, von denen ich früher ſprach,
faſt nie aus irgend einer Theilnahme an der Dar-
ſtellung ſelbſt entſtehen (denn höchſtens betreffen ſie
eine perſönliche Intrigue gegen oder für einen Schau-
ſpieler) ſondern faſt immer nur ein ganz fremdes
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/172>, abgerufen am 24.11.2024.
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