Fuß breiten, in Stein gesprengten, gewundenen Gang gelangt, dessen Dunkelheit so groß ist, daß ich mich genöthigt sah, den Unterrock meiner Führerin als Faden der Ariadne zu ergreifen, weil ich wörtlich die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Aus diesem Schacht kömmt man in eine malerische Felsengasse mit glatten hohen Wänden, über die sich Ebreschen und andere Beerentragende Bäume hinwölben. Seitwärts erblickt man eine Höhle, deren weite Oeffnung noch mit einem verrosteten eisernen Gitter verschlossen ist. Auf einer beschwerlichen Felsentreppe erreicht man endlich den obersten Theil der Ruine, einen hohen dachlosen Thurm, in dessen 15 Fuß dicken Mauern mancher hundertjährige Baum Wurzel geschlagen hat, und in dessen Innern sich ein unabsehbarer Brunnen befindet, der bis in die Eingeweide der Erde zu gehen scheint. Wenn man über die feste und wohlverwahrte Barriere, die ihn umgibt, hinunter blickt, erregt der Contrast der Thurmhöhe über Dir, in welche der Himmel hineinschaut, und der bodenlosen Tiefe unter Dir, wo ewige Nacht herrscht, einen ganz eignen Eindruck. Man wähnt hier Verzweiflung und Hoff- nung in einem Bilde allegorisch vereinigt zu sehen. Der Thurm und die Felsen, auf denen er ruht, sin- ken in gleicher senkrechter Linie bis in eine schwin- delnde Tiefe hinab nach dem Thale, dessen Riesen- bäume von hier nur wie junges Dickicht erscheinen. Mit einem etwas starken Sprunge der Einbildungs- kraft gelangten wir nach einer Viertelstunde von hier zu der Hütte eines Neu-Seeländers, an einem klei-
Fuß breiten, in Stein geſprengten, gewundenen Gang gelangt, deſſen Dunkelheit ſo groß iſt, daß ich mich genöthigt ſah, den Unterrock meiner Führerin als Faden der Ariadne zu ergreifen, weil ich wörtlich die Hand nicht vor den Augen ſehen konnte. Aus dieſem Schacht kömmt man in eine maleriſche Felſengaſſe mit glatten hohen Wänden, über die ſich Ebreſchen und andere Beerentragende Bäume hinwölben. Seitwärts erblickt man eine Höhle, deren weite Oeffnung noch mit einem verroſteten eiſernen Gitter verſchloſſen iſt. Auf einer beſchwerlichen Felſentreppe erreicht man endlich den oberſten Theil der Ruine, einen hohen dachloſen Thurm, in deſſen 15 Fuß dicken Mauern mancher hundertjährige Baum Wurzel geſchlagen hat, und in deſſen Innern ſich ein unabſehbarer Brunnen befindet, der bis in die Eingeweide der Erde zu gehen ſcheint. Wenn man über die feſte und wohlverwahrte Barriere, die ihn umgibt, hinunter blickt, erregt der Contraſt der Thurmhöhe über Dir, in welche der Himmel hineinſchaut, und der bodenloſen Tiefe unter Dir, wo ewige Nacht herrſcht, einen ganz eignen Eindruck. Man wähnt hier Verzweiflung und Hoff- nung in einem Bilde allegoriſch vereinigt zu ſehen. Der Thurm und die Felſen, auf denen er ruht, ſin- ken in gleicher ſenkrechter Linie bis in eine ſchwin- delnde Tiefe hinab nach dem Thale, deſſen Rieſen- bäume von hier nur wie junges Dickicht erſcheinen. Mit einem etwas ſtarken Sprunge der Einbildungs- kraft gelangten wir nach einer Viertelſtunde von hier zu der Hütte eines Neu-Seeländers, an einem klei-
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Fuß breiten, in Stein geſprengten, gewundenen Gang
gelangt, deſſen Dunkelheit ſo groß iſt, daß ich mich
genöthigt ſah, den Unterrock meiner Führerin als
Faden der Ariadne zu ergreifen, weil ich wörtlich die
Hand nicht vor den Augen ſehen konnte. Aus dieſem
Schacht kömmt man in eine maleriſche Felſengaſſe mit
glatten hohen Wänden, über die ſich Ebreſchen und
andere Beerentragende Bäume hinwölben. Seitwärts
erblickt man eine Höhle, deren weite Oeffnung noch
mit einem verroſteten eiſernen Gitter verſchloſſen iſt.
Auf einer beſchwerlichen Felſentreppe erreicht man
endlich den oberſten Theil der Ruine, einen hohen
dachloſen Thurm, in deſſen 15 Fuß dicken Mauern
mancher hundertjährige Baum Wurzel geſchlagen hat,
und in deſſen Innern ſich ein unabſehbarer Brunnen
befindet, der bis in die Eingeweide der Erde zu gehen
ſcheint. Wenn man über die feſte und wohlverwahrte
Barriere, die ihn umgibt, hinunter blickt, erregt der
Contraſt der Thurmhöhe über Dir, in welche der
Himmel hineinſchaut, und der bodenloſen Tiefe unter
Dir, wo ewige Nacht herrſcht, einen ganz eignen
Eindruck. Man wähnt hier Verzweiflung und Hoff-
nung in einem Bilde allegoriſch vereinigt zu ſehen.
Der Thurm und die Felſen, auf denen er ruht, ſin-
ken in gleicher ſenkrechter Linie bis in eine ſchwin-
delnde Tiefe hinab nach dem Thale, deſſen Rieſen-
bäume von hier nur wie junges Dickicht erſcheinen.
Mit einem etwas ſtarken Sprunge der Einbildungs-
kraft gelangten wir nach einer Viertelſtunde von hier
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/308>, abgerufen am 22.11.2024.
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