Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

ter aber kömmt sehr spät, oft gar nicht, um sein
weißes Todtengewand über sie zu breiten. Dabei
hört das Mähen des Rasens, und das Reinhalten
der Plätze und Gärten nie auf, ja auf dem Lande,
wo der Herbst und Winter die Season ist, wird in
dieser Zeit grade die meiste Sorgfalt darauf verwendet.

London wird aber dann von den Fashionablen
geflohen, und das mit solcher Affektation, daß Viele
sich, bei etwanigem nöthigen Aufenthalt daselbst,
förmlich zu verstecken suchen. Die Straßen sind im
westend of the town so leer wie in einer verlassenen
Stadt; nur die gemeinen Mädchen verfolgen Abends
auf die unanständigste Weise und mit den handgreif-
lichsten, gewaltsamen Liebkosungen jeden Vorüberzie-
henden. Nicht nur Engländerinnen, sondern auch
Fremde, nehmen schnell diese abscheuliche Sitte an.
So desesperirte mich neulich eine alte Französin mit
bleichen Lippen und geschminkten Wangen, die mir
angemerkt, daß ich ein Fremder sey, mit solcher Be-
harrlichkeit, daß selbst die Gabe des geforderten Schil-
lings mich noch nicht von ihr befreite. Encore un
moment,
rief sie immer, je ne demande rien, c'est
seulement pour parler francais, pour avoir une con-
versation raisonnable, dont les Anglais ne sont pas
capables.
Diese Geschöpfe werden hier zu einer wah-
ren Landplage.

Bei der jetzigen Einsamkeit hat man nun wenig-
stens so viel Zeit für sich als man will, kann arbei-
ten und die Legion der Zeitungen mit Muße lesen.
Die Albernheiten, welche täglich in diesen über fremde
Angelegenheiten stehen, sind unglaublich. Heute fand

ter aber kömmt ſehr ſpät, oft gar nicht, um ſein
weißes Todtengewand über ſie zu breiten. Dabei
hört das Mähen des Raſens, und das Reinhalten
der Plätze und Gärten nie auf, ja auf dem Lande,
wo der Herbſt und Winter die Seaſon iſt, wird in
dieſer Zeit grade die meiſte Sorgfalt darauf verwendet.

London wird aber dann von den Faſhionablen
geflohen, und das mit ſolcher Affektation, daß Viele
ſich, bei etwanigem nöthigen Aufenthalt daſelbſt,
förmlich zu verſtecken ſuchen. Die Straßen ſind im
westend of the town ſo leer wie in einer verlaſſenen
Stadt; nur die gemeinen Mädchen verfolgen Abends
auf die unanſtändigſte Weiſe und mit den handgreif-
lichſten, gewaltſamen Liebkoſungen jeden Vorüberzie-
henden. Nicht nur Engländerinnen, ſondern auch
Fremde, nehmen ſchnell dieſe abſcheuliche Sitte an.
So deſesperirte mich neulich eine alte Franzöſin mit
bleichen Lippen und geſchminkten Wangen, die mir
angemerkt, daß ich ein Fremder ſey, mit ſolcher Be-
harrlichkeit, daß ſelbſt die Gabe des geforderten Schil-
lings mich noch nicht von ihr befreite. Encore un
moment,
rief ſie immer, je ne demande rien, c’est
seulement pour parler français, pour avoir une con-
versation raisonnable, dont les Anglais ne sont pas
capables.
Dieſe Geſchöpfe werden hier zu einer wah-
ren Landplage.

Bei der jetzigen Einſamkeit hat man nun wenig-
ſtens ſo viel Zeit für ſich als man will, kann arbei-
ten und die Legion der Zeitungen mit Muße leſen.
Die Albernheiten, welche täglich in dieſen über fremde
Angelegenheiten ſtehen, ſind unglaublich. Heute fand

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0150" n="134"/>
ter aber kömmt &#x017F;ehr &#x017F;pät, oft gar nicht, um &#x017F;ein<lb/>
weißes Todtengewand über &#x017F;ie zu breiten. Dabei<lb/>
hört das Mähen des Ra&#x017F;ens, und das Reinhalten<lb/>
der Plätze und Gärten nie auf, ja auf dem Lande,<lb/>
wo der Herb&#x017F;t und Winter die Sea&#x017F;on i&#x017F;t, wird in<lb/>
die&#x017F;er Zeit grade die mei&#x017F;te Sorgfalt darauf verwendet.</p><lb/>
          <p>London wird aber dann von den Fa&#x017F;hionablen<lb/>
geflohen, und das mit &#x017F;olcher Affektation, daß Viele<lb/>
&#x017F;ich, bei etwanigem nöthigen Aufenthalt da&#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
förmlich zu ver&#x017F;tecken &#x017F;uchen. Die Straßen &#x017F;ind im<lb/><hi rendition="#aq">westend of the town</hi> &#x017F;o leer wie in einer verla&#x017F;&#x017F;enen<lb/>
Stadt; nur die gemeinen Mädchen verfolgen Abends<lb/>
auf die unan&#x017F;tändig&#x017F;te Wei&#x017F;e und mit den handgreif-<lb/>
lich&#x017F;ten, gewalt&#x017F;amen Liebko&#x017F;ungen jeden Vorüberzie-<lb/>
henden. Nicht nur Engländerinnen, &#x017F;ondern auch<lb/>
Fremde, nehmen &#x017F;chnell die&#x017F;e ab&#x017F;cheuliche Sitte an.<lb/>
So de&#x017F;esperirte mich neulich eine alte Franzö&#x017F;in mit<lb/>
bleichen Lippen und ge&#x017F;chminkten Wangen, die mir<lb/>
angemerkt, daß ich ein Fremder &#x017F;ey, mit &#x017F;olcher Be-<lb/>
harrlichkeit, daß &#x017F;elb&#x017F;t die Gabe des geforderten Schil-<lb/>
lings mich noch nicht von ihr befreite. <hi rendition="#aq">Encore un<lb/>
moment,</hi> rief &#x017F;ie immer, <hi rendition="#aq">je ne demande rien, c&#x2019;est<lb/>
seulement pour parler français, pour avoir une con-<lb/>
versation raisonnable, dont les Anglais ne sont pas<lb/>
capables.</hi> Die&#x017F;e Ge&#x017F;chöpfe werden hier zu einer wah-<lb/>
ren Landplage.</p><lb/>
          <p>Bei der jetzigen Ein&#x017F;amkeit hat man nun wenig-<lb/>
&#x017F;tens &#x017F;o viel Zeit für &#x017F;ich als man will, kann arbei-<lb/>
ten und die Legion der Zeitungen mit Muße le&#x017F;en.<lb/>
Die Albernheiten, welche täglich in die&#x017F;en über fremde<lb/>
Angelegenheiten &#x017F;tehen, &#x017F;ind unglaublich. Heute fand<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0150] ter aber kömmt ſehr ſpät, oft gar nicht, um ſein weißes Todtengewand über ſie zu breiten. Dabei hört das Mähen des Raſens, und das Reinhalten der Plätze und Gärten nie auf, ja auf dem Lande, wo der Herbſt und Winter die Seaſon iſt, wird in dieſer Zeit grade die meiſte Sorgfalt darauf verwendet. London wird aber dann von den Faſhionablen geflohen, und das mit ſolcher Affektation, daß Viele ſich, bei etwanigem nöthigen Aufenthalt daſelbſt, förmlich zu verſtecken ſuchen. Die Straßen ſind im westend of the town ſo leer wie in einer verlaſſenen Stadt; nur die gemeinen Mädchen verfolgen Abends auf die unanſtändigſte Weiſe und mit den handgreif- lichſten, gewaltſamen Liebkoſungen jeden Vorüberzie- henden. Nicht nur Engländerinnen, ſondern auch Fremde, nehmen ſchnell dieſe abſcheuliche Sitte an. So deſesperirte mich neulich eine alte Franzöſin mit bleichen Lippen und geſchminkten Wangen, die mir angemerkt, daß ich ein Fremder ſey, mit ſolcher Be- harrlichkeit, daß ſelbſt die Gabe des geforderten Schil- lings mich noch nicht von ihr befreite. Encore un moment, rief ſie immer, je ne demande rien, c’est seulement pour parler français, pour avoir une con- versation raisonnable, dont les Anglais ne sont pas capables. Dieſe Geſchöpfe werden hier zu einer wah- ren Landplage. Bei der jetzigen Einſamkeit hat man nun wenig- ſtens ſo viel Zeit für ſich als man will, kann arbei- ten und die Legion der Zeitungen mit Muße leſen. Die Albernheiten, welche täglich in dieſen über fremde Angelegenheiten ſtehen, ſind unglaublich. Heute fand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/150
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/150>, abgerufen am 22.12.2024.