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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
gelehnt werden müssen, am schwierigsten nach abwärts, da
sich der Körper in diesem Falle in einer das Gleichgewicht
beeinträchtigenden Beugehaltung nach vorwärts befindet. Schwierig
ist das Stufenschlagen auch dort, wo die Beschaffenheit des
Terrains die freie Körperbewegung hindert, z.B. an steilen Wänden,
in engen Rinnen und Kaminen. Um allen Vorkommnissen ge-
wachsen zu sein, soll der tüchtige Eismann das Stufenschlagen
mit Vorgriff links und rechts und auch mit nur einer Hand er-
lernen. Die vielseitigsten Kombinationen ergeben sich, wenn man
den Weg durch einen grösseren Gletscherabsturz nimmt. Wer
die Seracs des Glacier du Geant überschreitet, erhält ein bei-
läufiges Bild von der Vielseitigkeit der Kunstgriffe, über welche
die moderne Eistechnik verfügt. Bei aussergewöhnlich steilen
Hängen, Ueberschreitung von Eiskanälen und Erkletterung von
Eismauern sind kleine Löcher als Haltpunkte für die Finger zu
schlagen, die mit wenigen Pickelhieben hergestellt werden können.

Handelt es sich um die Ersteigung sehr hoher Gipfel, wie
im Kaukasus oder im Himalaya, so muss die Gesellschaft, wenn
sie ihr Ziel erreichen will, eine Route wählen, welche das Stufen-
schlagen möglichst abkürzt. Herrn Merzbacher und dem Ver-
fasser misslang die Ersteigung des höchsten Dschanga-Gipfels
deshalb, weil das Stufenschlagen auf einem Eishange in 4900 m
Höhe über 1 1/2 Stunden aufhielt, und die Zeit nicht mehr aus-
reichte, um den etwa 50 m höheren Westgipfel zu erklimmen.
Die grosse Stufenarbeit wird neben den heikeligen Felsklettereien
und der grossen Lawinengefahr stets eine der Hauptursachen sein,
dass die Ersteigung der höchsten Gipfel der Erde wenig Aussicht
auf Erfolg hat.

So gewaltig die Eisbedeckung in den Alpen auftritt, so
finden wir doch in den aussereuropäischen Hochgebirgen, wie im
Kaukasus, Himalaya und Hindukusch, die Schnee- und Eisszenerie
bedeutend grossartiger entwickelt. Neben einer reicheren Gliede-
rung der Firnhänge sind auch manche den Alpen völlig fremde
Erscheinungsformen, wie das überraschende Auftreten des Schnees
in nahezu senkrechten Böschungen, die oft in mehreren Etagen
übereinander liegenden vertikalen Eiswände, die 20 - 30 m weit
vorspringenden, parallel übereinanderliegenden Firnbalkons, dann
die die Grate krönenden, nach beiden Seiten weit überhängenden
Schneewächten, einige der charakteristischen Eigenthümlichkeiten
jener Berggebiete. Auf einem solchen Terrain den Weg zu
finden, Sturm und Kälte, sowie Entbehrungen aller Art zu er-

Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
gelehnt werden müssen, am schwierigsten nach abwärts, da
sich der Körper in diesem Falle in einer das Gleichgewicht
beeinträchtigenden Beugehaltung nach vorwärts befindet. Schwierig
ist das Stufenschlagen auch dort, wo die Beschaffenheit des
Terrains die freie Körperbewegung hindert, z.B. an steilen Wänden,
in engen Rinnen und Kaminen. Um allen Vorkommnissen ge-
wachsen zu sein, soll der tüchtige Eismann das Stufenschlagen
mit Vorgriff links und rechts und auch mit nur einer Hand er-
lernen. Die vielseitigsten Kombinationen ergeben sich, wenn man
den Weg durch einen grösseren Gletscherabsturz nimmt. Wer
die Séracs des Glacier du Géant überschreitet, erhält ein bei-
läufiges Bild von der Vielseitigkeit der Kunstgriffe, über welche
die moderne Eistechnik verfügt. Bei aussergewöhnlich steilen
Hängen, Ueberschreitung von Eiskanälen und Erkletterung von
Eismauern sind kleine Löcher als Haltpunkte für die Finger zu
schlagen, die mit wenigen Pickelhieben hergestellt werden können.

Handelt es sich um die Ersteigung sehr hoher Gipfel, wie
im Kaukasus oder im Himalaya, so muss die Gesellschaft, wenn
sie ihr Ziel erreichen will, eine Route wählen, welche das Stufen-
schlagen möglichst abkürzt. Herrn Merzbacher und dem Ver-
fasser misslang die Ersteigung des höchsten Dschanga-Gipfels
deshalb, weil das Stufenschlagen auf einem Eishange in 4900 m
Höhe über 1 ½ Stunden aufhielt, und die Zeit nicht mehr aus-
reichte, um den etwa 50 m höheren Westgipfel zu erklimmen.
Die grosse Stufenarbeit wird neben den heikeligen Felsklettereien
und der grossen Lawinengefahr stets eine der Hauptursachen sein,
dass die Ersteigung der höchsten Gipfel der Erde wenig Aussicht
auf Erfolg hat.

So gewaltig die Eisbedeckung in den Alpen auftritt, so
finden wir doch in den aussereuropäischen Hochgebirgen, wie im
Kaukasus, Himalaya und Hindukusch, die Schnee- und Eisszenerie
bedeutend grossartiger entwickelt. Neben einer reicheren Gliede-
rung der Firnhänge sind auch manche den Alpen völlig fremde
Erscheinungsformen, wie das überraschende Auftreten des Schnees
in nahezu senkrechten Böschungen, die oft in mehreren Etagen
übereinander liegenden vertikalen Eiswände, die 20 – 30 m weit
vorspringenden, parallel übereinanderliegenden Firnbalkons, dann
die die Grate krönenden, nach beiden Seiten weit überhängenden
Schneewächten, einige der charakteristischen Eigenthümlichkeiten
jener Berggebiete. Auf einem solchen Terrain den Weg zu
finden, Sturm und Kälte, sowie Entbehrungen aller Art zu er-

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[167/0073] Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus. gelehnt werden müssen, am schwierigsten nach abwärts, da sich der Körper in diesem Falle in einer das Gleichgewicht beeinträchtigenden Beugehaltung nach vorwärts befindet. Schwierig ist das Stufenschlagen auch dort, wo die Beschaffenheit des Terrains die freie Körperbewegung hindert, z.B. an steilen Wänden, in engen Rinnen und Kaminen. Um allen Vorkommnissen ge- wachsen zu sein, soll der tüchtige Eismann das Stufenschlagen mit Vorgriff links und rechts und auch mit nur einer Hand er- lernen. Die vielseitigsten Kombinationen ergeben sich, wenn man den Weg durch einen grösseren Gletscherabsturz nimmt. Wer die Séracs des Glacier du Géant überschreitet, erhält ein bei- läufiges Bild von der Vielseitigkeit der Kunstgriffe, über welche die moderne Eistechnik verfügt. Bei aussergewöhnlich steilen Hängen, Ueberschreitung von Eiskanälen und Erkletterung von Eismauern sind kleine Löcher als Haltpunkte für die Finger zu schlagen, die mit wenigen Pickelhieben hergestellt werden können. Handelt es sich um die Ersteigung sehr hoher Gipfel, wie im Kaukasus oder im Himalaya, so muss die Gesellschaft, wenn sie ihr Ziel erreichen will, eine Route wählen, welche das Stufen- schlagen möglichst abkürzt. Herrn Merzbacher und dem Ver- fasser misslang die Ersteigung des höchsten Dschanga-Gipfels deshalb, weil das Stufenschlagen auf einem Eishange in 4900 m Höhe über 1 ½ Stunden aufhielt, und die Zeit nicht mehr aus- reichte, um den etwa 50 m höheren Westgipfel zu erklimmen. Die grosse Stufenarbeit wird neben den heikeligen Felsklettereien und der grossen Lawinengefahr stets eine der Hauptursachen sein, dass die Ersteigung der höchsten Gipfel der Erde wenig Aussicht auf Erfolg hat. So gewaltig die Eisbedeckung in den Alpen auftritt, so finden wir doch in den aussereuropäischen Hochgebirgen, wie im Kaukasus, Himalaya und Hindukusch, die Schnee- und Eisszenerie bedeutend grossartiger entwickelt. Neben einer reicheren Gliede- rung der Firnhänge sind auch manche den Alpen völlig fremde Erscheinungsformen, wie das überraschende Auftreten des Schnees in nahezu senkrechten Böschungen, die oft in mehreren Etagen übereinander liegenden vertikalen Eiswände, die 20 – 30 m weit vorspringenden, parallel übereinanderliegenden Firnbalkons, dann die die Grate krönenden, nach beiden Seiten weit überhängenden Schneewächten, einige der charakteristischen Eigenthümlichkeiten jener Berggebiete. Auf einem solchen Terrain den Weg zu finden, Sturm und Kälte, sowie Entbehrungen aller Art zu er-

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/73>, abgerufen am 24.11.2024.