Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges
nicht angesehen und geglaubt, Herr Assessor. Da
hatten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hart¬
leben, den alten Grobian. Aber so in einem solchen
Jammerrollstuhl, da hat es sich was mit der Menschen
Arm- und Beinkräften und gesunder Lunge; da sche¬
nirt sich auch Unsereiner nicht, mit seinen intimeren
Meinungen herauszugehen; und nun, Herr Assessor,
sehe ich, daß die Frau Doktern am liebsten mit ihren
Gedanken allein sein möchte, also bringen Sie sie
still nach Hause und grüßen Sie auch Ihre Eltern.
Ich als neugebackener Rentner lasse mich noch ein
Stück um die Promenade kutschiren -- Herr Gott, wer
mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeit
hätte! Recht guten Morgen, liebe Herrschaften . . ."

So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogel¬
sang sprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe,
während der Schnee der heutigen Winternacht unab¬
lässig weiter herabrieselt. Und ich muß dabei die
linke Hand übers Auge legen, während ich schreibe;
als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf
läge. Es ist nicht das und ist es doch. Was trübt
das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen-
und Jugendglanz?


Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges
nicht angeſehen und geglaubt, Herr Aſſeſſor. Da
hatten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hart¬
leben, den alten Grobian. Aber ſo in einem ſolchen
Jammerrollſtuhl, da hat es ſich was mit der Menſchen
Arm- und Beinkräften und geſunder Lunge; da ſche¬
nirt ſich auch Unſereiner nicht, mit ſeinen intimeren
Meinungen herauszugehen; und nun, Herr Aſſeſſor,
ſehe ich, daß die Frau Doktern am liebſten mit ihren
Gedanken allein ſein möchte, alſo bringen Sie ſie
ſtill nach Hauſe und grüßen Sie auch Ihre Eltern.
Ich als neugebackener Rentner laſſe mich noch ein
Stück um die Promenade kutſchiren — Herr Gott, wer
mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeit
hätte! Recht guten Morgen, liebe Herrſchaften . . .“

So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogel¬
ſang ſprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe,
während der Schnee der heutigen Winternacht unab¬
läſſig weiter herabrieſelt. Und ich muß dabei die
linke Hand übers Auge legen, während ich ſchreibe;
als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf
läge. Es iſt nicht das und iſt es doch. Was trübt
das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen-
und Jugendglanz?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0181" n="171"/>
Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges<lb/>
nicht ange&#x017F;ehen und geglaubt, Herr A&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;or. Da<lb/>
hatten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hart¬<lb/>
leben, den alten Grobian. Aber &#x017F;o in einem &#x017F;olchen<lb/>
Jammerroll&#x017F;tuhl, da hat es &#x017F;ich was mit der Men&#x017F;chen<lb/>
Arm- und Beinkräften und ge&#x017F;under Lunge; da &#x017F;che¬<lb/>
nirt &#x017F;ich auch Un&#x017F;ereiner nicht, mit &#x017F;einen intimeren<lb/>
Meinungen herauszugehen; und nun, Herr A&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;or,<lb/>
&#x017F;ehe ich, daß die Frau Doktern am lieb&#x017F;ten mit ihren<lb/>
Gedanken allein &#x017F;ein möchte, al&#x017F;o bringen Sie &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;till nach Hau&#x017F;e und grüßen Sie auch Ihre Eltern.<lb/>
Ich als neugebackener Rentner la&#x017F;&#x017F;e mich noch ein<lb/>
Stück um die Promenade kut&#x017F;chiren &#x2014; Herr Gott, wer<lb/>
mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeit<lb/>
hätte! Recht guten Morgen, liebe Herr&#x017F;chaften . . .&#x201C;</p><lb/>
      <p>So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogel¬<lb/>
&#x017F;ang &#x017F;prach, indem ich hundert Worte in eines ziehe,<lb/>
während der Schnee der heutigen Winternacht unab¬<lb/>&#x017F;&#x017F;ig weiter herabrie&#x017F;elt. Und ich muß dabei die<lb/>
linke Hand übers Auge legen, während ich &#x017F;chreibe;<lb/>
als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf<lb/>
läge. Es i&#x017F;t nicht das und i&#x017F;t es doch. Was trübt<lb/>
das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen-<lb/>
und Jugendglanz?</p><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0181] Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges nicht angeſehen und geglaubt, Herr Aſſeſſor. Da hatten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hart¬ leben, den alten Grobian. Aber ſo in einem ſolchen Jammerrollſtuhl, da hat es ſich was mit der Menſchen Arm- und Beinkräften und geſunder Lunge; da ſche¬ nirt ſich auch Unſereiner nicht, mit ſeinen intimeren Meinungen herauszugehen; und nun, Herr Aſſeſſor, ſehe ich, daß die Frau Doktern am liebſten mit ihren Gedanken allein ſein möchte, alſo bringen Sie ſie ſtill nach Hauſe und grüßen Sie auch Ihre Eltern. Ich als neugebackener Rentner laſſe mich noch ein Stück um die Promenade kutſchiren — Herr Gott, wer mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeit hätte! Recht guten Morgen, liebe Herrſchaften . . .“ So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogel¬ ſang ſprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe, während der Schnee der heutigen Winternacht unab¬ läſſig weiter herabrieſelt. Und ich muß dabei die linke Hand übers Auge legen, während ich ſchreibe; als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf läge. Es iſt nicht das und iſt es doch. Was trübt das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen- und Jugendglanz?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/181
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/181>, abgerufen am 25.11.2024.