lag auch auf dem Nähtischchen der Frau Doktorin, und der Begleitbrief Veltens daneben.
Die Mutter des Freundes reichte mir ihre Hand, nachdem sie ihr feuchtes Taschentuch zwischen die Blumentöpfe in ihrer Fensterbank geschoben hatte, und sagte: "Sieh, das ist freundlich von Dir, Karl. Wenn sich die Welt um Einen her verändert, hält man sich am besten an die Jungen aus seiner alten Bekanntschaft, an die, welche ihr Recht noch vom nächsten Tag erwarten, lustig in der neuen Fluth schwimmen, und aus ihrem jungen Recht an die Zeit den Alten wenigstens den Kopf ein wenig zurecht¬ setzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat sich verheirathet, Velten hat geschrieben. Da ist sein Brief und Du kannst ihn lesen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß sich der Vogelsang so sehr für mich verändern könnte. Aber so geht es eben, wenn der Mensch es nicht glauben kann, daß ihm seine liebsten Hoffnungen aus dem Leben weggewischt werden können."
Sie sah sich hier in ihrem Stübchen, in welchem sie unter all ihren Erinnerungen saß, wie die Frau Fechtmeisterin Feucht in der Dorotheenstraße zu Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen Blicke um: "Wie doch Alles dem Menschen auf ein¬ mal so ganz andere Gesichter schneiden kann! Und
lag auch auf dem Nähtiſchchen der Frau Doktorin, und der Begleitbrief Veltens daneben.
Die Mutter des Freundes reichte mir ihre Hand, nachdem ſie ihr feuchtes Taſchentuch zwiſchen die Blumentöpfe in ihrer Fenſterbank geſchoben hatte, und ſagte: „Sieh, das iſt freundlich von Dir, Karl. Wenn ſich die Welt um Einen her verändert, hält man ſich am beſten an die Jungen aus ſeiner alten Bekanntſchaft, an die, welche ihr Recht noch vom nächſten Tag erwarten, luſtig in der neuen Fluth ſchwimmen, und aus ihrem jungen Recht an die Zeit den Alten wenigſtens den Kopf ein wenig zurecht¬ ſetzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat ſich verheirathet, Velten hat geſchrieben. Da iſt ſein Brief und Du kannſt ihn leſen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ſich der Vogelſang ſo ſehr für mich verändern könnte. Aber ſo geht es eben, wenn der Menſch es nicht glauben kann, daß ihm ſeine liebſten Hoffnungen aus dem Leben weggewiſcht werden können.“
Sie ſah ſich hier in ihrem Stübchen, in welchem ſie unter all ihren Erinnerungen ſaß, wie die Frau Fechtmeiſterin Feucht in der Dorotheenſtraße zu Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen Blicke um: „Wie doch Alles dem Menſchen auf ein¬ mal ſo ganz andere Geſichter ſchneiden kann! Und
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0192"n="182"/>
lag auch auf dem Nähtiſchchen der Frau Doktorin,<lb/>
und der Begleitbrief Veltens daneben.</p><lb/><p>Die Mutter des Freundes reichte mir ihre Hand,<lb/>
nachdem ſie ihr feuchtes Taſchentuch zwiſchen die<lb/>
Blumentöpfe in ihrer Fenſterbank geſchoben hatte,<lb/>
und ſagte: „Sieh, das iſt freundlich von Dir, Karl.<lb/>
Wenn ſich die Welt um Einen her verändert, hält<lb/>
man ſich am beſten an die Jungen aus ſeiner alten<lb/>
Bekanntſchaft, an die, welche ihr Recht noch vom<lb/>
nächſten Tag erwarten, luſtig in der neuen Fluth<lb/>ſchwimmen, und aus ihrem jungen Recht an die<lb/>
Zeit den Alten wenigſtens den Kopf ein wenig zurecht¬<lb/>ſetzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat<lb/>ſich verheirathet, Velten hat geſchrieben. Da iſt ſein<lb/>
Brief und Du kannſt ihn leſen. Ich hätte es nie<lb/>
für möglich gehalten, daß ſich der Vogelſang ſo ſehr<lb/>
für mich verändern könnte. Aber ſo geht es eben,<lb/>
wenn der Menſch es nicht glauben kann, daß ihm<lb/>ſeine liebſten Hoffnungen aus dem Leben weggewiſcht<lb/>
werden können.“</p><lb/><p>Sie ſah ſich hier in ihrem Stübchen, in welchem<lb/>ſie unter all ihren Erinnerungen ſaß, wie die Frau<lb/>
Fechtmeiſterin Feucht in der Dorotheenſtraße zu<lb/>
Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen<lb/>
Blicke um: „Wie doch Alles dem Menſchen auf ein¬<lb/>
mal ſo ganz andere Geſichter ſchneiden kann! Und<lb/></p></body></text></TEI>
[182/0192]
lag auch auf dem Nähtiſchchen der Frau Doktorin,
und der Begleitbrief Veltens daneben.
Die Mutter des Freundes reichte mir ihre Hand,
nachdem ſie ihr feuchtes Taſchentuch zwiſchen die
Blumentöpfe in ihrer Fenſterbank geſchoben hatte,
und ſagte: „Sieh, das iſt freundlich von Dir, Karl.
Wenn ſich die Welt um Einen her verändert, hält
man ſich am beſten an die Jungen aus ſeiner alten
Bekanntſchaft, an die, welche ihr Recht noch vom
nächſten Tag erwarten, luſtig in der neuen Fluth
ſchwimmen, und aus ihrem jungen Recht an die
Zeit den Alten wenigſtens den Kopf ein wenig zurecht¬
ſetzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat
ſich verheirathet, Velten hat geſchrieben. Da iſt ſein
Brief und Du kannſt ihn leſen. Ich hätte es nie
für möglich gehalten, daß ſich der Vogelſang ſo ſehr
für mich verändern könnte. Aber ſo geht es eben,
wenn der Menſch es nicht glauben kann, daß ihm
ſeine liebſten Hoffnungen aus dem Leben weggewiſcht
werden können.“
Sie ſah ſich hier in ihrem Stübchen, in welchem
ſie unter all ihren Erinnerungen ſaß, wie die Frau
Fechtmeiſterin Feucht in der Dorotheenſtraße zu
Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen
Blicke um: „Wie doch Alles dem Menſchen auf ein¬
mal ſo ganz andere Geſichter ſchneiden kann! Und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/192>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.