Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

"Wir kamen zufällig über den Osterberg, Herr
Andres; und hier durch den Vogelsang."

"O und wie Sie mir recht kommen, Frau
Assessor, gnädige Frau," ächzte hinter uns eine halb
durch Thränen, halb durch Lachen erstickte Weiber¬
stimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfaust be¬
förderte die größte Sensationsnummer der Gegen¬
wart, den Feuermenschen Volcano, aus dem Wege,
packte dann mich am Oberarm, schob uns, mein
Weib und mich, gegen die Hausthür der Frau
Doktor Velten vor, und dann -- auf den Sohn der
besten Frau des Vogelsangs mit zitterndem Zeigefinger
deutend, kreischte Riekchen Schellenbaum:

"Ja, Karl -- Herr Assessor, wollte ich sagen;
die ganze Stadt sollte man hierzu zusammenrufen!
Ja, die Herrschaften kommen zur richtigen Stunde,
um ihm, dem Herrn da, zu sagen, daß dies eine
Sünde und Schande ist! Hier der Frau Assessorin,
Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl schon seit
Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht
das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich
es ausrufen und ausschreien, was ich ausstehe und
ausgestanden habe. Bin ich schon im Irrenhause,
oder soll ich erst herein? O Gott, Herr Velten,
wenn mich doch die selige Frau Mutter mit hinunter
in ihr ruhiges Grab genommen hätte -- zehntausend¬

„Wir kamen zufällig über den Oſterberg, Herr
Andres; und hier durch den Vogelſang.“

„O und wie Sie mir recht kommen, Frau
Aſſeſſor, gnädige Frau,“ ächzte hinter uns eine halb
durch Thränen, halb durch Lachen erſtickte Weiber¬
ſtimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfauſt be¬
förderte die größte Senſationsnummer der Gegen¬
wart, den Feuermenſchen Volcano, aus dem Wege,
packte dann mich am Oberarm, ſchob uns, mein
Weib und mich, gegen die Hausthür der Frau
Doktor Velten vor, und dann — auf den Sohn der
beſten Frau des Vogelſangs mit zitterndem Zeigefinger
deutend, kreiſchte Riekchen Schellenbaum:

„Ja, Karl — Herr Aſſeſſor, wollte ich ſagen;
die ganze Stadt ſollte man hierzu zuſammenrufen!
Ja, die Herrſchaften kommen zur richtigen Stunde,
um ihm, dem Herrn da, zu ſagen, daß dies eine
Sünde und Schande iſt! Hier der Frau Aſſeſſorin,
Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl ſchon ſeit
Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht
das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich
es ausrufen und ausſchreien, was ich ausſtehe und
ausgeſtanden habe. Bin ich ſchon im Irrenhauſe,
oder ſoll ich erſt herein? O Gott, Herr Velten,
wenn mich doch die ſelige Frau Mutter mit hinunter
in ihr ruhiges Grab genommen hätte — zehntauſend¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0280" n="270"/>
      <p>&#x201E;Wir kamen zufällig über den O&#x017F;terberg, Herr<lb/>
Andres; und hier durch den Vogel&#x017F;ang.&#x201C;</p><lb/>
      <p>&#x201E;O und wie Sie mir recht kommen, Frau<lb/>
A&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;or, gnädige Frau,&#x201C; ächzte hinter uns eine halb<lb/>
durch Thränen, halb durch Lachen er&#x017F;tickte Weiber¬<lb/>
&#x017F;timme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfau&#x017F;t be¬<lb/>
förderte die größte Sen&#x017F;ationsnummer der Gegen¬<lb/>
wart, den Feuermen&#x017F;chen Volcano, aus dem Wege,<lb/>
packte dann mich am Oberarm, &#x017F;chob uns, mein<lb/>
Weib und mich, gegen die Hausthür der Frau<lb/>
Doktor Velten vor, und dann &#x2014; auf den Sohn der<lb/>
be&#x017F;ten Frau des Vogel&#x017F;angs mit zitterndem Zeigefinger<lb/>
deutend, krei&#x017F;chte Riekchen Schellenbaum:</p><lb/>
      <p>&#x201E;Ja, Karl &#x2014; Herr A&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;or, wollte ich &#x017F;agen;<lb/>
die ganze Stadt &#x017F;ollte man hierzu zu&#x017F;ammenrufen!<lb/>
Ja, die Herr&#x017F;chaften kommen zur richtigen Stunde,<lb/>
um ihm, dem Herrn da, zu &#x017F;agen, daß dies eine<lb/>
Sünde und Schande i&#x017F;t! Hier der Frau A&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;orin,<lb/>
Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl &#x017F;chon &#x017F;eit<lb/>
Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht<lb/>
das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich<lb/>
es ausrufen und aus&#x017F;chreien, was ich aus&#x017F;tehe und<lb/>
ausge&#x017F;tanden habe. Bin ich &#x017F;chon im Irrenhau&#x017F;e,<lb/>
oder &#x017F;oll ich er&#x017F;t herein? O Gott, Herr Velten,<lb/>
wenn mich doch die &#x017F;elige Frau Mutter mit hinunter<lb/>
in ihr ruhiges Grab genommen hätte &#x2014; zehntau&#x017F;end¬<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[270/0280] „Wir kamen zufällig über den Oſterberg, Herr Andres; und hier durch den Vogelſang.“ „O und wie Sie mir recht kommen, Frau Aſſeſſor, gnädige Frau,“ ächzte hinter uns eine halb durch Thränen, halb durch Lachen erſtickte Weiber¬ ſtimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfauſt be¬ förderte die größte Senſationsnummer der Gegen¬ wart, den Feuermenſchen Volcano, aus dem Wege, packte dann mich am Oberarm, ſchob uns, mein Weib und mich, gegen die Hausthür der Frau Doktor Velten vor, und dann — auf den Sohn der beſten Frau des Vogelſangs mit zitterndem Zeigefinger deutend, kreiſchte Riekchen Schellenbaum: „Ja, Karl — Herr Aſſeſſor, wollte ich ſagen; die ganze Stadt ſollte man hierzu zuſammenrufen! Ja, die Herrſchaften kommen zur richtigen Stunde, um ihm, dem Herrn da, zu ſagen, daß dies eine Sünde und Schande iſt! Hier der Frau Aſſeſſorin, Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl ſchon ſeit Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich es ausrufen und ausſchreien, was ich ausſtehe und ausgeſtanden habe. Bin ich ſchon im Irrenhauſe, oder ſoll ich erſt herein? O Gott, Herr Velten, wenn mich doch die ſelige Frau Mutter mit hinunter in ihr ruhiges Grab genommen hätte — zehntauſend¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/280
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/280>, abgerufen am 22.11.2024.