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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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Stunde zu wissen; aber seit sie mir gesagt hat, daß
Sie kommen würden, sind mir in der Erwartung
die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen
könnte ich so meiner Seele Luft machen, wem könnte
ich hiervon so erzählen als wie Ihnen? Wem kann
man denn so was begreiflich machen als wie Einem,
der auch mit dazu gehört hat von Anfang an?"

Die Sonne geht um diese Jahreszeit gegen
halb fünf Uhr unter. Die breiten Straßen, die
großen Plätze der Stadt lagen noch in ihrem Lichte;
in dem Stübchen der Frau Fechtmeisterin Feucht
war es merkwürdigerweise noch hell, das Stückchen
Himmelszelt vor dem Fenster, für den November¬
nachmittag lichtblau und wolkenfrei wie am schönsten
Sommermorgen. Wohl ein Vierteljahrhundert war
hingegangen, seit ich zum ersten Mal zwischen diesen
vier Wänden gestanden und verwundert umher und
von der Bewohnerin auf die Wände gestarrt hatte.
Nun stand ich wieder so; -- während in den langen
Jahren um mich her nichts an seinem Platze ge¬
blieben war, hatte sich hier nichts verändert. Die
Zeit, die mit so leiser, sanfter Hand über die Stirn
der kleinen greifen Elfin gestrichen hatte, hatte auch
in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt,
nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den
Auktionshammer gebracht, nichts -- in den Ofen

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Stunde zu wiſſen; aber ſeit ſie mir geſagt hat, daß
Sie kommen würden, ſind mir in der Erwartung
die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen
könnte ich ſo meiner Seele Luft machen, wem könnte
ich hiervon ſo erzählen als wie Ihnen? Wem kann
man denn ſo was begreiflich machen als wie Einem,
der auch mit dazu gehört hat von Anfang an?“

Die Sonne geht um dieſe Jahreszeit gegen
halb fünf Uhr unter. Die breiten Straßen, die
großen Plätze der Stadt lagen noch in ihrem Lichte;
in dem Stübchen der Frau Fechtmeiſterin Feucht
war es merkwürdigerweiſe noch hell, das Stückchen
Himmelszelt vor dem Fenſter, für den November¬
nachmittag lichtblau und wolkenfrei wie am ſchönſten
Sommermorgen. Wohl ein Vierteljahrhundert war
hingegangen, ſeit ich zum erſten Mal zwiſchen dieſen
vier Wänden geſtanden und verwundert umher und
von der Bewohnerin auf die Wände geſtarrt hatte.
Nun ſtand ich wieder ſo; — während in den langen
Jahren um mich her nichts an ſeinem Platze ge¬
blieben war, hatte ſich hier nichts verändert. Die
Zeit, die mit ſo leiſer, ſanfter Hand über die Stirn
der kleinen greifen Elfin geſtrichen hatte, hatte auch
in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt,
nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den
Auktionshammer gebracht, nichts — in den Ofen

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[291/0301] Stunde zu wiſſen; aber ſeit ſie mir geſagt hat, daß Sie kommen würden, ſind mir in der Erwartung die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen könnte ich ſo meiner Seele Luft machen, wem könnte ich hiervon ſo erzählen als wie Ihnen? Wem kann man denn ſo was begreiflich machen als wie Einem, der auch mit dazu gehört hat von Anfang an?“ Die Sonne geht um dieſe Jahreszeit gegen halb fünf Uhr unter. Die breiten Straßen, die großen Plätze der Stadt lagen noch in ihrem Lichte; in dem Stübchen der Frau Fechtmeiſterin Feucht war es merkwürdigerweiſe noch hell, das Stückchen Himmelszelt vor dem Fenſter, für den November¬ nachmittag lichtblau und wolkenfrei wie am ſchönſten Sommermorgen. Wohl ein Vierteljahrhundert war hingegangen, ſeit ich zum erſten Mal zwiſchen dieſen vier Wänden geſtanden und verwundert umher und von der Bewohnerin auf die Wände geſtarrt hatte. Nun ſtand ich wieder ſo; — während in den langen Jahren um mich her nichts an ſeinem Platze ge¬ blieben war, hatte ſich hier nichts verändert. Die Zeit, die mit ſo leiſer, ſanfter Hand über die Stirn der kleinen greifen Elfin geſtrichen hatte, hatte auch in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt, nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den Auktionshammer gebracht, nichts — in den Ofen 19*

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/301>, abgerufen am 22.11.2024.