das? Kehren wir schnell um und steigen wir die Trep- pen hinunter in das unterste Stockwerk.
Da sitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirth's und Tischlermeister's Werner eine weißhaarige gebückte Frau in ihrem Lehnstuhl hinter dem Ofen, spinnend vom Morgen bis zum Abend. Das ist die alte Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des Hauses, welche den Grundstein legen und den Knopf auf die Giebelspitze setzen sah und mit dem Hause und seiner Geschichte verwachsen ist durch und durch.
Manche Leiche hat sie in den langen Jahren ihres Lebens hinaustragen sehen: ihre Eltern und alle ihre Geschwister, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf eins, die Anna, die Frau des jetzigen Besitzers. Sie hat den Sarg Mariens mit schmücken helfen und den Sarg Franzens; sie hat ihre Freundin, meine alte Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof, wo sie begraben ward an der Seite ihrer Herrin, und manchen Andern vom Dachstübchen bis zur Keller- wohnung.
Einst war sie das schönste Mädchen der Gasse -- wie sie jetzt noch die schönste alte Frau ist -- und als der Hausknopf geschlossen werden sollte, und jedes Glied der damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hinein that, legte sie erröthend und unbemerkt ein kleines Blättchen
das? Kehren wir ſchnell um und ſteigen wir die Trep- pen hinunter in das unterſte Stockwerk.
Da ſitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirth’s und Tiſchlermeiſter’s Werner eine weißhaarige gebückte Frau in ihrem Lehnſtuhl hinter dem Ofen, ſpinnend vom Morgen bis zum Abend. Das iſt die alte Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des Hauſes, welche den Grundſtein legen und den Knopf auf die Giebelſpitze ſetzen ſah und mit dem Hauſe und ſeiner Geſchichte verwachſen iſt durch und durch.
Manche Leiche hat ſie in den langen Jahren ihres Lebens hinaustragen ſehen: ihre Eltern und alle ihre Geſchwiſter, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf eins, die Anna, die Frau des jetzigen Beſitzers. Sie hat den Sarg Mariens mit ſchmücken helfen und den Sarg Franzens; ſie hat ihre Freundin, meine alte Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof, wo ſie begraben ward an der Seite ihrer Herrin, und manchen Andern vom Dachſtübchen bis zur Keller- wohnung.
Einſt war ſie das ſchönſte Mädchen der Gaſſe — wie ſie jetzt noch die ſchönſte alte Frau iſt — und als der Hausknopf geſchloſſen werden ſollte, und jedes Glied der damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hinein that, legte ſie erröthend und unbemerkt ein kleines Blättchen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0144"n="134"/>
das? Kehren wir ſchnell um und ſteigen wir die Trep-<lb/>
pen hinunter in das unterſte Stockwerk.</p><lb/><p>Da ſitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirth’s<lb/>
und Tiſchlermeiſter’s Werner eine weißhaarige gebückte<lb/>
Frau in ihrem Lehnſtuhl hinter dem Ofen, ſpinnend<lb/>
vom Morgen bis zum Abend. Das iſt die alte<lb/>
Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des<lb/>
Hauſes, welche den Grundſtein legen und den Knopf<lb/>
auf die Giebelſpitze ſetzen ſah und mit dem Hauſe und<lb/>ſeiner Geſchichte verwachſen iſt durch und durch.</p><lb/><p>Manche Leiche hat ſie in den langen Jahren ihres<lb/>
Lebens hinaustragen ſehen: ihre Eltern und alle ihre<lb/>
Geſchwiſter, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf<lb/>
eins, die Anna, die Frau des jetzigen Beſitzers. Sie<lb/>
hat den Sarg Mariens mit ſchmücken helfen und den<lb/>
Sarg Franzens; ſie hat ihre Freundin, meine alte<lb/>
Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof,<lb/>
wo ſie begraben ward an der Seite ihrer Herrin,<lb/>
und manchen Andern vom Dachſtübchen bis zur Keller-<lb/>
wohnung.</p><lb/><p>Einſt war ſie das ſchönſte Mädchen der Gaſſe — wie<lb/>ſie jetzt noch die ſchönſte alte Frau iſt — und als der<lb/>
Hausknopf geſchloſſen werden ſollte, und jedes Glied der<lb/>
damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hinein that,<lb/>
legte ſie erröthend und unbemerkt ein kleines Blättchen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[134/0144]
das? Kehren wir ſchnell um und ſteigen wir die Trep-
pen hinunter in das unterſte Stockwerk.
Da ſitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirth’s
und Tiſchlermeiſter’s Werner eine weißhaarige gebückte
Frau in ihrem Lehnſtuhl hinter dem Ofen, ſpinnend
vom Morgen bis zum Abend. Das iſt die alte
Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des
Hauſes, welche den Grundſtein legen und den Knopf
auf die Giebelſpitze ſetzen ſah und mit dem Hauſe und
ſeiner Geſchichte verwachſen iſt durch und durch.
Manche Leiche hat ſie in den langen Jahren ihres
Lebens hinaustragen ſehen: ihre Eltern und alle ihre
Geſchwiſter, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf
eins, die Anna, die Frau des jetzigen Beſitzers. Sie
hat den Sarg Mariens mit ſchmücken helfen und den
Sarg Franzens; ſie hat ihre Freundin, meine alte
Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof,
wo ſie begraben ward an der Seite ihrer Herrin,
und manchen Andern vom Dachſtübchen bis zur Keller-
wohnung.
Einſt war ſie das ſchönſte Mädchen der Gaſſe — wie
ſie jetzt noch die ſchönſte alte Frau iſt — und als der
Hausknopf geſchloſſen werden ſollte, und jedes Glied der
damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hinein that,
legte ſie erröthend und unbemerkt ein kleines Blättchen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/144>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.