sehnst, ohne es zu kennen. Sieh' wie blau, wie duftig die Ferne! Viel, viel weiter liegt's! Komm heraus, heraus! --
Bah, diese blaue duftige Ferne; wie oft hab' ich mich von ihr verlocken lassen. Die Erde läßt uns ja nicht los; wir sind ihre Kinder, und sie ist nichts ohne uns, wir nichts ohne sie. -- Folge jetzt der lockenden Stimme, Deine Füße werden schon in den weichen Boden versin- ken, närrische Sprünge wirst Du mit den Erdklößen an den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit wo die Sehn- sucht am stärksten ist, auch die Fesseln am stärksten sind; kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die gestrige Zeitung vor die Nase: das Glück liegt nicht in der Ferne, nicht über dem "wechselnden Mond!" --
31/2 Uhr. -- Da höre ich eben unten in der Gasse eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tage- löhners, der einen andern, sehr übelgelaunt Aussehenden, mit den Worten auf die Schulter klopft: "Man muß nie verzweifeln; kommt's nicht gut, so kommt's doch schlecht heraus!" In demselben Augenblick öffnet sich nebenan ein Fenster. Eine beschmierte rothe Sammet- mütze auf einem Wald schwarzer Haare beugt sich heraus; es ist mein würdiger Freund Monsieur Anastase Tour- billon, seines Zeichens ein französischer Sprachlehrer. Er scheint die Redensart drunten auch gehört und --
ſehnſt, ohne es zu kennen. Sieh’ wie blau, wie duftig die Ferne! Viel, viel weiter liegt’s! Komm heraus, heraus! —
Bah, dieſe blaue duftige Ferne; wie oft hab’ ich mich von ihr verlocken laſſen. Die Erde läßt uns ja nicht los; wir ſind ihre Kinder, und ſie iſt nichts ohne uns, wir nichts ohne ſie. — Folge jetzt der lockenden Stimme, Deine Füße werden ſchon in den weichen Boden verſin- ken, närriſche Sprünge wirſt Du mit den Erdklößen an den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit wo die Sehn- ſucht am ſtärkſten iſt, auch die Feſſeln am ſtärkſten ſind; kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die geſtrige Zeitung vor die Naſe: das Glück liegt nicht in der Ferne, nicht über dem „wechſelnden Mond!“ —
3½ Uhr. — Da höre ich eben unten in der Gaſſe eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tage- löhners, der einen andern, ſehr übelgelaunt Ausſehenden, mit den Worten auf die Schulter klopft: „Man muß nie verzweifeln; kommt’s nicht gut, ſo kommt’s doch ſchlecht heraus!“ In demſelben Augenblick öffnet ſich nebenan ein Fenſter. Eine beſchmierte rothe Sammet- mütze auf einem Wald ſchwarzer Haare beugt ſich heraus; es iſt mein würdiger Freund Monsieur Anastase Tour- billon, ſeines Zeichens ein franzöſiſcher Sprachlehrer. Er ſcheint die Redensart drunten auch gehört und —
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0228"n="218"/>ſehnſt, ohne es zu kennen. Sieh’ wie blau, wie duftig<lb/>
die Ferne! Viel, viel weiter liegt’s! Komm heraus,<lb/>
heraus! —</p><lb/><p>Bah, dieſe blaue duftige Ferne; wie oft hab’ ich mich<lb/>
von ihr verlocken laſſen. Die Erde läßt uns ja nicht<lb/>
los; wir ſind ihre Kinder, und ſie iſt nichts ohne uns,<lb/>
wir nichts ohne ſie. — Folge jetzt der lockenden Stimme,<lb/>
Deine Füße werden ſchon in den weichen Boden verſin-<lb/>
ken, närriſche Sprünge wirſt Du mit den Erdklößen an<lb/>
den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit wo die Sehn-<lb/>ſucht am ſtärkſten iſt, auch die Feſſeln am ſtärkſten ſind;<lb/>
kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die geſtrige<lb/>
Zeitung vor die Naſe: das Glück liegt nicht in der Ferne,<lb/>
nicht über dem „wechſelnden Mond!“—</p><lb/><p>3½ <hirendition="#g">Uhr</hi>. — Da höre ich eben unten in der Gaſſe<lb/>
eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tage-<lb/>
löhners, der einen andern, ſehr übelgelaunt Ausſehenden,<lb/>
mit den Worten auf die Schulter klopft: „Man muß<lb/>
nie verzweifeln; kommt’s nicht gut, ſo <hirendition="#g">kommt’s doch<lb/>ſchlecht heraus</hi>!“ In demſelben Augenblick öffnet ſich<lb/>
nebenan ein Fenſter. Eine beſchmierte rothe Sammet-<lb/>
mütze auf einem Wald ſchwarzer Haare beugt ſich heraus;<lb/>
es iſt mein würdiger Freund <hirendition="#aq">Monsieur Anastase Tour-<lb/>
billon,</hi>ſeines Zeichens ein franzöſiſcher Sprachlehrer.<lb/>
Er ſcheint die Redensart drunten auch gehört und —<lb/></p></div></body></text></TEI>
[218/0228]
ſehnſt, ohne es zu kennen. Sieh’ wie blau, wie duftig
die Ferne! Viel, viel weiter liegt’s! Komm heraus,
heraus! —
Bah, dieſe blaue duftige Ferne; wie oft hab’ ich mich
von ihr verlocken laſſen. Die Erde läßt uns ja nicht
los; wir ſind ihre Kinder, und ſie iſt nichts ohne uns,
wir nichts ohne ſie. — Folge jetzt der lockenden Stimme,
Deine Füße werden ſchon in den weichen Boden verſin-
ken, närriſche Sprünge wirſt Du mit den Erdklößen an
den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit wo die Sehn-
ſucht am ſtärkſten iſt, auch die Feſſeln am ſtärkſten ſind;
kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die geſtrige
Zeitung vor die Naſe: das Glück liegt nicht in der Ferne,
nicht über dem „wechſelnden Mond!“ —
3½ Uhr. — Da höre ich eben unten in der Gaſſe
eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tage-
löhners, der einen andern, ſehr übelgelaunt Ausſehenden,
mit den Worten auf die Schulter klopft: „Man muß
nie verzweifeln; kommt’s nicht gut, ſo kommt’s doch
ſchlecht heraus!“ In demſelben Augenblick öffnet ſich
nebenan ein Fenſter. Eine beſchmierte rothe Sammet-
mütze auf einem Wald ſchwarzer Haare beugt ſich heraus;
es iſt mein würdiger Freund Monsieur Anastase Tour-
billon, ſeines Zeichens ein franzöſiſcher Sprachlehrer.
Er ſcheint die Redensart drunten auch gehört und —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/228>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.