"O daß sie ewig grünen bliebe," "Die schöne Zeit der jungen Liebe!" sang der Dichter und überall treffen wir den Spruch an, auf Kaffee-Tassen, in Stammbüchern und auf Pfeifen- köpfen. Das soll kein Spott sein! Was das Volk er- faßt hat, will es auch vor sich sehen, es spielt mit ihm, es spricht den gereimten Gedanken, den es zu seinem Eigenthum gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf den Lippen aus, aber es trägt ihn darum doch tief im Herzen. Das Volk steigt nicht zu dem Wahren und Schönen hinauf, sondern es zieht es zu sich herab; aber nicht, um es unter die Füße zu treten, sondern um es zu herzen, zu liebkosen, um es im ewig wechselnden Spiel zu drehen und zu wenden und sich über seinen Glanz zu wundern und zu freuen. Ueber der Wiege des ewigen Kindes "Menschheit" schweben die guten Genien, die großen Weltdichter, schütten aus ihren Füllhörnern die goldenen Weihnachtsfrüchte herab, und sind mit ihren Wiegenliedern stets da, wenn häßliche schwarze Kobolde erschreckend dazwischen gelugt haben. -- --
Schön ist die Zeit der jungen Liebe! Sie ist gleich der Morgendämmerung, wo der Himmel im Osten leise sich röthet, wo Knospen, Blumen und alles Leben dem kommenden Tage in die Arme schlummern, und nur hin und wieder eine Lerche, den Thau von den Flügeln schüt-
„O daß ſie ewig grünen bliebe,“ „Die ſchöne Zeit der jungen Liebe!“ ſang der Dichter und überall treffen wir den Spruch an, auf Kaffee-Taſſen, in Stammbüchern und auf Pfeifen- köpfen. Das ſoll kein Spott ſein! Was das Volk er- faßt hat, will es auch vor ſich ſehen, es ſpielt mit ihm, es ſpricht den gereimten Gedanken, den es zu ſeinem Eigenthum gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf den Lippen aus, aber es trägt ihn darum doch tief im Herzen. Das Volk ſteigt nicht zu dem Wahren und Schönen hinauf, ſondern es zieht es zu ſich herab; aber nicht, um es unter die Füße zu treten, ſondern um es zu herzen, zu liebkoſen, um es im ewig wechſelnden Spiel zu drehen und zu wenden und ſich über ſeinen Glanz zu wundern und zu freuen. Ueber der Wiege des ewigen Kindes „Menſchheit“ ſchweben die guten Genien, die großen Weltdichter, ſchütten aus ihren Füllhörnern die goldenen Weihnachtsfrüchte herab, und ſind mit ihren Wiegenliedern ſtets da, wenn häßliche ſchwarze Kobolde erſchreckend dazwiſchen gelugt haben. — —
Schön iſt die Zeit der jungen Liebe! Sie iſt gleich der Morgendämmerung, wo der Himmel im Oſten leiſe ſich röthet, wo Knospen, Blumen und alles Leben dem kommenden Tage in die Arme ſchlummern, und nur hin und wieder eine Lerche, den Thau von den Flügeln ſchüt-
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„O daß ſie ewig grünen bliebe,“
„Die ſchöne Zeit der jungen Liebe!“
ſang der Dichter und überall treffen wir den Spruch an,
auf Kaffee-Taſſen, in Stammbüchern und auf Pfeifen-
köpfen. Das ſoll kein Spott ſein! Was das Volk er-
faßt hat, will es auch vor ſich ſehen, es ſpielt mit ihm,
es ſpricht den gereimten Gedanken, den es zu ſeinem
Eigenthum gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf
den Lippen aus, aber es trägt ihn darum doch tief im
Herzen. Das Volk ſteigt nicht zu dem Wahren und
Schönen hinauf, ſondern es zieht es zu ſich herab; aber
nicht, um es unter die Füße zu treten, ſondern um es zu
herzen, zu liebkoſen, um es im ewig wechſelnden Spiel
zu drehen und zu wenden und ſich über ſeinen Glanz zu
wundern und zu freuen. Ueber der Wiege des ewigen
Kindes „Menſchheit“ ſchweben die guten Genien, die
großen Weltdichter, ſchütten aus ihren Füllhörnern die
goldenen Weihnachtsfrüchte herab, und ſind mit ihren
Wiegenliedern ſtets da, wenn häßliche ſchwarze Kobolde
erſchreckend dazwiſchen gelugt haben. — —
Schön iſt die Zeit der jungen Liebe! Sie iſt gleich
der Morgendämmerung, wo der Himmel im Oſten leiſe
ſich röthet, wo Knospen, Blumen und alles Leben dem
kommenden Tage in die Arme ſchlummern, und nur hin
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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/239>, abgerufen am 18.05.2024.
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