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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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lebt wohl, lebt wohl!" rief er nach Rechts und Links
herüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick
hinauf nach seiner verlassenen Wohnung, wo die Fenster
offen standen und eine zerrissene Gardine lustig im
Frühlingswinde flatterte, und brummte: "Adieu Nest!" --

"Und wo wollen Sie nun hin?" fragte ich meinen
wunderlichen Begleiter.

Der Zeichner lachte. "Was meinen Sie," sagte er,
"wenn ich mir das Völkergewühl im Orient ein wenig
ansähe, Costüme zeichnete und über das Bemühen lachte:
einen neu eintretenden Factor der Menschheitsentwick-
lung durch Lancasterkanonen und Kriegsschiffe aufhalten
zu wollen?"

"Was?!" rief ich mit offnem Munde.

"Wem gilt das "Was?" lachte Strobel. "Meinem
Vorhaben oder meiner Meinung?"

"Sie glauben" ......

"Ich glaube, daß die Erde jung ist, alter Freund!
Wir brauchen frisches Blut und wollen nicht meinen, daß,
weil man uns nur Geschichte der Vergangenheit lehrt,
es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar
zu gern in alles ein: in unsern Rock, in unsern Körper,
in unsere Familie, in unser Volk; wir freuen uns, wenn
ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt er-
blickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock zerreißen oder

lebt wohl, lebt wohl!“ rief er nach Rechts und Links
herüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick
hinauf nach ſeiner verlaſſenen Wohnung, wo die Fenſter
offen ſtanden und eine zerriſſene Gardine luſtig im
Frühlingswinde flatterte, und brummte: „Adieu Neſt!“ —

„Und wo wollen Sie nun hin?“ fragte ich meinen
wunderlichen Begleiter.

Der Zeichner lachte. „Was meinen Sie,“ ſagte er,
„wenn ich mir das Völkergewühl im Orient ein wenig
anſähe, Coſtüme zeichnete und über das Bemühen lachte:
einen neu eintretenden Factor der Menſchheitsentwick-
lung durch Lancaſterkanonen und Kriegsſchiffe aufhalten
zu wollen?“

„Was?!“ rief ich mit offnem Munde.

„Wem gilt das „Was?“ lachte Strobel. „Meinem
Vorhaben oder meiner Meinung?“

„Sie glauben“ ......

„Ich glaube, daß die Erde jung iſt, alter Freund!
Wir brauchen friſches Blut und wollen nicht meinen, daß,
weil man uns nur Geſchichte der Vergangenheit lehrt,
es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar
zu gern in alles ein: in unſern Rock, in unſern Körper,
in unſere Familie, in unſer Volk; wir freuen uns, wenn
ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt er-
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[250/0260] lebt wohl, lebt wohl!“ rief er nach Rechts und Links herüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick hinauf nach ſeiner verlaſſenen Wohnung, wo die Fenſter offen ſtanden und eine zerriſſene Gardine luſtig im Frühlingswinde flatterte, und brummte: „Adieu Neſt!“ — „Und wo wollen Sie nun hin?“ fragte ich meinen wunderlichen Begleiter. Der Zeichner lachte. „Was meinen Sie,“ ſagte er, „wenn ich mir das Völkergewühl im Orient ein wenig anſähe, Coſtüme zeichnete und über das Bemühen lachte: einen neu eintretenden Factor der Menſchheitsentwick- lung durch Lancaſterkanonen und Kriegsſchiffe aufhalten zu wollen?“ „Was?!“ rief ich mit offnem Munde. „Wem gilt das „Was?“ lachte Strobel. „Meinem Vorhaben oder meiner Meinung?“ „Sie glauben“ ...... „Ich glaube, daß die Erde jung iſt, alter Freund! Wir brauchen friſches Blut und wollen nicht meinen, daß, weil man uns nur Geſchichte der Vergangenheit lehrt, es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar zu gern in alles ein: in unſern Rock, in unſern Körper, in unſere Familie, in unſer Volk; wir freuen uns, wenn ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt er- blickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock zerreißen oder

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/260>, abgerufen am 23.11.2024.