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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
die schwere Frage aufgelöst hat, wie es möglich
sey, daß ein vernünftiges Geschöpfe Geduld ge-
nug habe, sein ganzes Leben, von den ersten Jah-
ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro-
chenen Müßiggange zu zu bringen. Sollte ihn
aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieses von ihm
erführen, so wird uns doch sein ungeschäfftiges Le-
ben zu einem Beweise dienen, daß auch ein Müs-
siggänger in seinem Alter nichts thue, da er in sei-
ner Jugend nichts zu thun gewohnt gewesen ist.

Der Satz ist sehr richtig, daß man schon in
dem Knaben den Mann erblickt, und aus den
Handlungen der Kinder mit einiger Zuverläßigkeit
prophezeihen kann, was für eine Rolle sie bey zu-
nehmenden Jahren und im Alter spielen werden.
Mein Onkel ist ein alter Winkelschulmeister, und
hat sich durch seinen Fleiß so beliebt gemacht, daß
ihm fast die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter-
weisung anvertraut. Dieser Gelegenheit bediene
ich mich, Betrachtungen anzustellen. Jch bin
beständig unter diesen Kindern, die ich mir durch
kleine Gefälligkeiten verbindlich zu machen ge-
wußt habe. Da sie mich gewohnt sind, und ich bey
allen ihren kindischen Thorheiten freundlich bleibe,
so verstellen sie sich in meiner Gegenwart nicht, und
ich erlange dadurch das Vergnügen, mit einem
prophetischen Auge in die Nachwelt unserer Stadt
zu sehen, und für sie tausend gute und schlimme
Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht so
aufmerksam sind, ganz verborgen bleiben. Ja,

ich
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Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
die ſchwere Frage aufgeloͤſt hat, wie es moͤglich
ſey, daß ein vernuͤnftiges Geſchoͤpfe Geduld ge-
nug habe, ſein ganzes Leben, von den erſten Jah-
ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro-
chenen Muͤßiggange zu zu bringen. Sollte ihn
aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieſes von ihm
erfuͤhren, ſo wird uns doch ſein ungeſchaͤfftiges Le-
ben zu einem Beweiſe dienen, daß auch ein Muͤſ-
ſiggaͤnger in ſeinem Alter nichts thue, da er in ſei-
ner Jugend nichts zu thun gewohnt geweſen iſt.

Der Satz iſt ſehr richtig, daß man ſchon in
dem Knaben den Mann erblickt, und aus den
Handlungen der Kinder mit einiger Zuverlaͤßigkeit
prophezeihen kann, was fuͤr eine Rolle ſie bey zu-
nehmenden Jahren und im Alter ſpielen werden.
Mein Onkel iſt ein alter Winkelſchulmeiſter, und
hat ſich durch ſeinen Fleiß ſo beliebt gemacht, daß
ihm faſt die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter-
weiſung anvertraut. Dieſer Gelegenheit bediene
ich mich, Betrachtungen anzuſtellen. Jch bin
beſtaͤndig unter dieſen Kindern, die ich mir durch
kleine Gefaͤlligkeiten verbindlich zu machen ge-
wußt habe. Da ſie mich gewohnt ſind, und ich bey
allen ihren kindiſchen Thorheiten freundlich bleibe,
ſo verſtellen ſie ſich in meiner Gegenwart nicht, und
ich erlange dadurch das Vergnuͤgen, mit einem
prophetiſchen Auge in die Nachwelt unſerer Stadt
zu ſehen, und fuͤr ſie tauſend gute und ſchlimme
Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht ſo
aufmerkſam ſind, ganz verborgen bleiben. Ja,

ich
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[181/0203] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. die ſchwere Frage aufgeloͤſt hat, wie es moͤglich ſey, daß ein vernuͤnftiges Geſchoͤpfe Geduld ge- nug habe, ſein ganzes Leben, von den erſten Jah- ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro- chenen Muͤßiggange zu zu bringen. Sollte ihn aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieſes von ihm erfuͤhren, ſo wird uns doch ſein ungeſchaͤfftiges Le- ben zu einem Beweiſe dienen, daß auch ein Muͤſ- ſiggaͤnger in ſeinem Alter nichts thue, da er in ſei- ner Jugend nichts zu thun gewohnt geweſen iſt. Der Satz iſt ſehr richtig, daß man ſchon in dem Knaben den Mann erblickt, und aus den Handlungen der Kinder mit einiger Zuverlaͤßigkeit prophezeihen kann, was fuͤr eine Rolle ſie bey zu- nehmenden Jahren und im Alter ſpielen werden. Mein Onkel iſt ein alter Winkelſchulmeiſter, und hat ſich durch ſeinen Fleiß ſo beliebt gemacht, daß ihm faſt die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter- weiſung anvertraut. Dieſer Gelegenheit bediene ich mich, Betrachtungen anzuſtellen. Jch bin beſtaͤndig unter dieſen Kindern, die ich mir durch kleine Gefaͤlligkeiten verbindlich zu machen ge- wußt habe. Da ſie mich gewohnt ſind, und ich bey allen ihren kindiſchen Thorheiten freundlich bleibe, ſo verſtellen ſie ſich in meiner Gegenwart nicht, und ich erlange dadurch das Vergnuͤgen, mit einem prophetiſchen Auge in die Nachwelt unſerer Stadt zu ſehen, und fuͤr ſie tauſend gute und ſchlimme Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht ſo aufmerkſam ſind, ganz verborgen bleiben. Ja, ich M 3

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/203>, abgerufen am 24.11.2024.