die schwere Frage aufgelöst hat, wie es möglich sey, daß ein vernünftiges Geschöpfe Geduld ge- nug habe, sein ganzes Leben, von den ersten Jah- ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro- chenen Müßiggange zu zu bringen. Sollte ihn aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieses von ihm erführen, so wird uns doch sein ungeschäfftiges Le- ben zu einem Beweise dienen, daß auch ein Müs- siggänger in seinem Alter nichts thue, da er in sei- ner Jugend nichts zu thun gewohnt gewesen ist.
Der Satz ist sehr richtig, daß man schon in dem Knaben den Mann erblickt, und aus den Handlungen der Kinder mit einiger Zuverläßigkeit prophezeihen kann, was für eine Rolle sie bey zu- nehmenden Jahren und im Alter spielen werden. Mein Onkel ist ein alter Winkelschulmeister, und hat sich durch seinen Fleiß so beliebt gemacht, daß ihm fast die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter- weisung anvertraut. Dieser Gelegenheit bediene ich mich, Betrachtungen anzustellen. Jch bin beständig unter diesen Kindern, die ich mir durch kleine Gefälligkeiten verbindlich zu machen ge- wußt habe. Da sie mich gewohnt sind, und ich bey allen ihren kindischen Thorheiten freundlich bleibe, so verstellen sie sich in meiner Gegenwart nicht, und ich erlange dadurch das Vergnügen, mit einem prophetischen Auge in die Nachwelt unserer Stadt zu sehen, und für sie tausend gute und schlimme Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht so aufmerksam sind, ganz verborgen bleiben. Ja,
ich
M 3
Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
die ſchwere Frage aufgeloͤſt hat, wie es moͤglich ſey, daß ein vernuͤnftiges Geſchoͤpfe Geduld ge- nug habe, ſein ganzes Leben, von den erſten Jah- ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro- chenen Muͤßiggange zu zu bringen. Sollte ihn aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieſes von ihm erfuͤhren, ſo wird uns doch ſein ungeſchaͤfftiges Le- ben zu einem Beweiſe dienen, daß auch ein Muͤſ- ſiggaͤnger in ſeinem Alter nichts thue, da er in ſei- ner Jugend nichts zu thun gewohnt geweſen iſt.
Der Satz iſt ſehr richtig, daß man ſchon in dem Knaben den Mann erblickt, und aus den Handlungen der Kinder mit einiger Zuverlaͤßigkeit prophezeihen kann, was fuͤr eine Rolle ſie bey zu- nehmenden Jahren und im Alter ſpielen werden. Mein Onkel iſt ein alter Winkelſchulmeiſter, und hat ſich durch ſeinen Fleiß ſo beliebt gemacht, daß ihm faſt die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter- weiſung anvertraut. Dieſer Gelegenheit bediene ich mich, Betrachtungen anzuſtellen. Jch bin beſtaͤndig unter dieſen Kindern, die ich mir durch kleine Gefaͤlligkeiten verbindlich zu machen ge- wußt habe. Da ſie mich gewohnt ſind, und ich bey allen ihren kindiſchen Thorheiten freundlich bleibe, ſo verſtellen ſie ſich in meiner Gegenwart nicht, und ich erlange dadurch das Vergnuͤgen, mit einem prophetiſchen Auge in die Nachwelt unſerer Stadt zu ſehen, und fuͤr ſie tauſend gute und ſchlimme Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht ſo aufmerkſam ſind, ganz verborgen bleiben. Ja,
ich
M 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0203"n="181"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.</hi></fw><lb/>
die ſchwere Frage aufgeloͤſt hat, wie es moͤglich<lb/>ſey, daß ein vernuͤnftiges Geſchoͤpfe Geduld ge-<lb/>
nug habe, ſein ganzes Leben, von den erſten Jah-<lb/>
ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro-<lb/>
chenen Muͤßiggange zu zu bringen. Sollte ihn<lb/>
aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieſes von ihm<lb/>
erfuͤhren, ſo wird uns doch ſein ungeſchaͤfftiges Le-<lb/>
ben zu einem Beweiſe dienen, daß auch ein Muͤſ-<lb/>ſiggaͤnger in ſeinem Alter nichts thue, da er in ſei-<lb/>
ner Jugend nichts zu thun gewohnt geweſen iſt.</p><lb/><p>Der Satz iſt ſehr richtig, daß man ſchon in<lb/>
dem Knaben den Mann erblickt, und aus den<lb/>
Handlungen der Kinder mit einiger Zuverlaͤßigkeit<lb/>
prophezeihen kann, was fuͤr eine Rolle ſie bey zu-<lb/>
nehmenden Jahren und im Alter ſpielen werden.<lb/>
Mein Onkel iſt ein alter Winkelſchulmeiſter, und<lb/>
hat ſich durch ſeinen Fleiß ſo beliebt gemacht, daß<lb/>
ihm faſt die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter-<lb/>
weiſung anvertraut. Dieſer Gelegenheit bediene<lb/>
ich mich, Betrachtungen anzuſtellen. Jch bin<lb/>
beſtaͤndig unter dieſen Kindern, die ich mir durch<lb/>
kleine Gefaͤlligkeiten verbindlich zu machen ge-<lb/>
wußt habe. Da ſie mich gewohnt ſind, und ich bey<lb/>
allen ihren kindiſchen Thorheiten freundlich bleibe,<lb/>ſo verſtellen ſie ſich in meiner Gegenwart nicht, und<lb/>
ich erlange dadurch das Vergnuͤgen, mit einem<lb/>
prophetiſchen Auge in die Nachwelt unſerer Stadt<lb/>
zu ſehen, und fuͤr ſie tauſend gute und ſchlimme<lb/>
Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht ſo<lb/>
aufmerkſam ſind, ganz verborgen bleiben. Ja,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">ich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[181/0203]
Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
die ſchwere Frage aufgeloͤſt hat, wie es moͤglich
ſey, daß ein vernuͤnftiges Geſchoͤpfe Geduld ge-
nug habe, ſein ganzes Leben, von den erſten Jah-
ren an, bis ins hohe Alter in einem ununterbro-
chenen Muͤßiggange zu zu bringen. Sollte ihn
aber der Tod dahin raffen, ehe wir dieſes von ihm
erfuͤhren, ſo wird uns doch ſein ungeſchaͤfftiges Le-
ben zu einem Beweiſe dienen, daß auch ein Muͤſ-
ſiggaͤnger in ſeinem Alter nichts thue, da er in ſei-
ner Jugend nichts zu thun gewohnt geweſen iſt.
Der Satz iſt ſehr richtig, daß man ſchon in
dem Knaben den Mann erblickt, und aus den
Handlungen der Kinder mit einiger Zuverlaͤßigkeit
prophezeihen kann, was fuͤr eine Rolle ſie bey zu-
nehmenden Jahren und im Alter ſpielen werden.
Mein Onkel iſt ein alter Winkelſchulmeiſter, und
hat ſich durch ſeinen Fleiß ſo beliebt gemacht, daß
ihm faſt die halbe Stadt ihre Kinder zur Unter-
weiſung anvertraut. Dieſer Gelegenheit bediene
ich mich, Betrachtungen anzuſtellen. Jch bin
beſtaͤndig unter dieſen Kindern, die ich mir durch
kleine Gefaͤlligkeiten verbindlich zu machen ge-
wußt habe. Da ſie mich gewohnt ſind, und ich bey
allen ihren kindiſchen Thorheiten freundlich bleibe,
ſo verſtellen ſie ſich in meiner Gegenwart nicht, und
ich erlange dadurch das Vergnuͤgen, mit einem
prophetiſchen Auge in die Nachwelt unſerer Stadt
zu ſehen, und fuͤr ſie tauſend gute und ſchlimme
Folgen zu entdecken, die andern, welche nicht ſo
aufmerkſam ſind, ganz verborgen bleiben. Ja,
ich
M 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/203>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.