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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
den Abgrund stürzt, aus dem sie sich nicht zu ret-
ten weis. Sie schämte sich vor sich selbst. Denn
auch die Lasterhaftesten haben gewisse Augenblicke,
in denen sie vor sich erschrecken. Sie war, ihrer
Frechheit unerachtet, ganz verwirrt, da man ihr
ihre Ausschweifungen zu eben der Zeit vorwarf,
als sie sich den Namen einer frommen und erba-
ren Frau ersingen wollte. Sie fühlte den Werth
der Tugend; Sie wollte tugendhaft scheinen:
Aber sie war der Laster gewohnt, und hielt die
Belohnungen der Tugend für zu ungewiß, als
daß sie den gegenwärtigen Vortheil hätte aufge-
ben sollen, den sie von ihrer und anderer Aus-
schweifung zog. Alles dieses machte sie zur
Heuchlerinn. Da sie mir gleich gegen über saß,
so hatte ich Gelegenheit, sie, während ihres
Singens, sehr genau zu bemerken. Weil sie
zur Unzeit heilig seyn wollte: so war mir, gleich
mit dem ersten Augenblicke, ihre Andacht ver-
dächtig. Jch spähete alle Züge ihres Gesichtes
aus. Sie spielte die Rolle einer Betschwester
vortrefflich. Sie hieng ihren grauen Kopf buß-
fertig nach der linken Schulter; sie preßte die
Seufzer mit einem heiligen Ungestüme aus der
verstockten Brust hervor; sie drehte die Augen
mit einer qvakerischen Entzückung gegen den
Himmel, einen Ort, der ihnen ganz fremde war;
und zu einer andern Zeit übersahe sie mit einem
ehrgeizigen Blicke die Gesichter der Gesellschaft,
und suchte den Beyfall, welchen sie wohl nicht
fand, und den sie doch durch ein heuchlerisches

Ringen
Z 2

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
den Abgrund ſtuͤrzt, aus dem ſie ſich nicht zu ret-
ten weis. Sie ſchaͤmte ſich vor ſich ſelbſt. Denn
auch die Laſterhafteſten haben gewiſſe Augenblicke,
in denen ſie vor ſich erſchrecken. Sie war, ihrer
Frechheit unerachtet, ganz verwirrt, da man ihr
ihre Ausſchweifungen zu eben der Zeit vorwarf,
als ſie ſich den Namen einer frommen und erba-
ren Frau erſingen wollte. Sie fuͤhlte den Werth
der Tugend; Sie wollte tugendhaft ſcheinen:
Aber ſie war der Laſter gewohnt, und hielt die
Belohnungen der Tugend fuͤr zu ungewiß, als
daß ſie den gegenwaͤrtigen Vortheil haͤtte aufge-
ben ſollen, den ſie von ihrer und anderer Aus-
ſchweifung zog. Alles dieſes machte ſie zur
Heuchlerinn. Da ſie mir gleich gegen uͤber ſaß,
ſo hatte ich Gelegenheit, ſie, waͤhrend ihres
Singens, ſehr genau zu bemerken. Weil ſie
zur Unzeit heilig ſeyn wollte: ſo war mir, gleich
mit dem erſten Augenblicke, ihre Andacht ver-
daͤchtig. Jch ſpaͤhete alle Zuͤge ihres Geſichtes
aus. Sie ſpielte die Rolle einer Betſchweſter
vortrefflich. Sie hieng ihren grauen Kopf buß-
fertig nach der linken Schulter; ſie preßte die
Seufzer mit einem heiligen Ungeſtuͤme aus der
verſtockten Bruſt hervor; ſie drehte die Augen
mit einer qvakeriſchen Entzuͤckung gegen den
Himmel, einen Ort, der ihnen ganz fremde war;
und zu einer andern Zeit uͤberſahe ſie mit einem
ehrgeizigen Blicke die Geſichter der Geſellſchaft,
und ſuchte den Beyfall, welchen ſie wohl nicht
fand, und den ſie doch durch ein heuchleriſches

Ringen
Z 2
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[355/0377] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. den Abgrund ſtuͤrzt, aus dem ſie ſich nicht zu ret- ten weis. Sie ſchaͤmte ſich vor ſich ſelbſt. Denn auch die Laſterhafteſten haben gewiſſe Augenblicke, in denen ſie vor ſich erſchrecken. Sie war, ihrer Frechheit unerachtet, ganz verwirrt, da man ihr ihre Ausſchweifungen zu eben der Zeit vorwarf, als ſie ſich den Namen einer frommen und erba- ren Frau erſingen wollte. Sie fuͤhlte den Werth der Tugend; Sie wollte tugendhaft ſcheinen: Aber ſie war der Laſter gewohnt, und hielt die Belohnungen der Tugend fuͤr zu ungewiß, als daß ſie den gegenwaͤrtigen Vortheil haͤtte aufge- ben ſollen, den ſie von ihrer und anderer Aus- ſchweifung zog. Alles dieſes machte ſie zur Heuchlerinn. Da ſie mir gleich gegen uͤber ſaß, ſo hatte ich Gelegenheit, ſie, waͤhrend ihres Singens, ſehr genau zu bemerken. Weil ſie zur Unzeit heilig ſeyn wollte: ſo war mir, gleich mit dem erſten Augenblicke, ihre Andacht ver- daͤchtig. Jch ſpaͤhete alle Zuͤge ihres Geſichtes aus. Sie ſpielte die Rolle einer Betſchweſter vortrefflich. Sie hieng ihren grauen Kopf buß- fertig nach der linken Schulter; ſie preßte die Seufzer mit einem heiligen Ungeſtuͤme aus der verſtockten Bruſt hervor; ſie drehte die Augen mit einer qvakeriſchen Entzuͤckung gegen den Himmel, einen Ort, der ihnen ganz fremde war; und zu einer andern Zeit uͤberſahe ſie mit einem ehrgeizigen Blicke die Geſichter der Geſellſchaft, und ſuchte den Beyfall, welchen ſie wohl nicht fand, und den ſie doch durch ein heuchleriſches Ringen Z 2

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/377>, abgerufen am 22.11.2024.