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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Das Märchen vom ersten April.
werden. Er nahm sie bey der Hand; aber sie
zog ihre Hand kaltsinnig zurück, und sah ihn an.
Endlich schien sie sich zu erinnern, daß er ihr Ge-
mahl sey. Sie überließ ihm die Hand nachläßig,
ohne auf die Zärtlichkeit Acht zu haben, mit wel-
cher er sie küßte. Er wagte es endlich, sie an
den Tod ihres Großvaters zu erinnern. Der
Wille der Götter, sagte er mit einer ängstlichen
Miene zu ihr, seine Weisheit, seine Tugend, das
Glück der Todten, das schwächliche Alter deines
Großvaters - - - Jst er todt? unterbrach
sie ihn ganz gelassen. T' Siamma sah traurig
auf die Erde. Also ist er todt, wiederholte sie
nochmals, und zuckte mit den Achseln. Aber er
war alt, und verdrießlich; sein - - - Jndem
sie dieses sagen wollte, so entdeckte sie im Spiegel,
unter ihrem linken Auge, ein kleines fast unmerk-
liches Blätterchen. Aber, große Götter! schrye
sie, was ist dieses? Sie ward unruhig, sie ver-
langte die Aerzte, und sank kraftlös auf einen
Sopha nieder.

T' Siamma stand vor ihr, wie ein Träu-
mender. Er sah seine Gemahlinn, als die schönste
Person des Morgenlandes, vor sich; aber ohne
Zärtlichkeit, ohne Empfindung der Tugenden, die
ihr sonst so eigen waren. Er sah einen schön ge-
malten Körper, welcher nur mit sich beschäfftigt
war, nur sich liebte, und die Hochachtung der
Menschen erwartete, ohne sie verdienen zu wollen.
Er schlug an seine Stirne, und bat die Götter, sie

möchten

Das Maͤrchen vom erſten April.
werden. Er nahm ſie bey der Hand; aber ſie
zog ihre Hand kaltſinnig zuruͤck, und ſah ihn an.
Endlich ſchien ſie ſich zu erinnern, daß er ihr Ge-
mahl ſey. Sie uͤberließ ihm die Hand nachlaͤßig,
ohne auf die Zaͤrtlichkeit Acht zu haben, mit wel-
cher er ſie kuͤßte. Er wagte es endlich, ſie an
den Tod ihres Großvaters zu erinnern. Der
Wille der Goͤtter, ſagte er mit einer aͤngſtlichen
Miene zu ihr, ſeine Weisheit, ſeine Tugend, das
Gluͤck der Todten, das ſchwaͤchliche Alter deines
Großvaters ‒ ‒ ‒ Jſt er todt? unterbrach
ſie ihn ganz gelaſſen. T’ Siamma ſah traurig
auf die Erde. Alſo iſt er todt, wiederholte ſie
nochmals, und zuckte mit den Achſeln. Aber er
war alt, und verdrießlich; ſein ‒ ‒ ‒ Jndem
ſie dieſes ſagen wollte, ſo entdeckte ſie im Spiegel,
unter ihrem linken Auge, ein kleines faſt unmerk-
liches Blaͤtterchen. Aber, große Goͤtter! ſchrye
ſie, was iſt dieſes? Sie ward unruhig, ſie ver-
langte die Aerzte, und ſank kraftloͤs auf einen
Sopha nieder.

T’ Siamma ſtand vor ihr, wie ein Traͤu-
mender. Er ſah ſeine Gemahlinn, als die ſchoͤnſte
Perſon des Morgenlandes, vor ſich; aber ohne
Zaͤrtlichkeit, ohne Empfindung der Tugenden, die
ihr ſonſt ſo eigen waren. Er ſah einen ſchoͤn ge-
malten Koͤrper, welcher nur mit ſich beſchaͤfftigt
war, nur ſich liebte, und die Hochachtung der
Menſchen erwartete, ohne ſie verdienen zu wollen.
Er ſchlug an ſeine Stirne, und bat die Goͤtter, ſie

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[484[482]/0506] Das Maͤrchen vom erſten April. werden. Er nahm ſie bey der Hand; aber ſie zog ihre Hand kaltſinnig zuruͤck, und ſah ihn an. Endlich ſchien ſie ſich zu erinnern, daß er ihr Ge- mahl ſey. Sie uͤberließ ihm die Hand nachlaͤßig, ohne auf die Zaͤrtlichkeit Acht zu haben, mit wel- cher er ſie kuͤßte. Er wagte es endlich, ſie an den Tod ihres Großvaters zu erinnern. Der Wille der Goͤtter, ſagte er mit einer aͤngſtlichen Miene zu ihr, ſeine Weisheit, ſeine Tugend, das Gluͤck der Todten, das ſchwaͤchliche Alter deines Großvaters ‒ ‒ ‒ Jſt er todt? unterbrach ſie ihn ganz gelaſſen. T’ Siamma ſah traurig auf die Erde. Alſo iſt er todt, wiederholte ſie nochmals, und zuckte mit den Achſeln. Aber er war alt, und verdrießlich; ſein ‒ ‒ ‒ Jndem ſie dieſes ſagen wollte, ſo entdeckte ſie im Spiegel, unter ihrem linken Auge, ein kleines faſt unmerk- liches Blaͤtterchen. Aber, große Goͤtter! ſchrye ſie, was iſt dieſes? Sie ward unruhig, ſie ver- langte die Aerzte, und ſank kraftloͤs auf einen Sopha nieder. T’ Siamma ſtand vor ihr, wie ein Traͤu- mender. Er ſah ſeine Gemahlinn, als die ſchoͤnſte Perſon des Morgenlandes, vor ſich; aber ohne Zaͤrtlichkeit, ohne Empfindung der Tugenden, die ihr ſonſt ſo eigen waren. Er ſah einen ſchoͤn ge- malten Koͤrper, welcher nur mit ſich beſchaͤfftigt war, nur ſich liebte, und die Hochachtung der Menſchen erwartete, ohne ſie verdienen zu wollen. Er ſchlug an ſeine Stirne, und bat die Goͤtter, ſie moͤchten

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 484[482]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/506>, abgerufen am 22.11.2024.