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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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und Ehrenerklärung.
oder ihrer Tugend. War es wohl anders mög-
lich, als daß Selinde sich von Jugend auf ge-
wöhnen mußte, zu glauben, der ganze Werth ei-
nes Frauenzimmers bestehe in der Schönheit, und
daß sie Verstand und Tugend, als einen sehr ent-
behrlichen Nebenumstand ansahe, da Mannsper-
sonen, welche sich das Recht anmaßen, vom Ver-
stande und von der Tugend zu urtheilen, davon
gegen sie niemals, und nur einigemal gegen ihre
alte Mutter etwas erwähnten? Daß sie Klean-
tens Frau geworden ist, das hat sie weder ihrem
Verstande, noch ihrer Tugend, sondern bloß ihrer
reizenden Miene, und einem wohlgewählten An-
putze zu danken, welcher vor etlichen Jahren auf
einem Balle ihrem Manne so gefährlich war.
Noch itzt, da ihr Mann, welcher zu leben weis,
sie, als seine Frau, weiter nicht liebt, noch itzt fin-
det man sie von einer Menge Männer, und unver-
heiratheter Mannspersonen belagert, von denen
sie weiter nichts, als Lobsprüche ihrer Schönheit
hört. Verstünde Selinde diese eigennützigen
Schmeicheleyen der Mannspersonen, so würde sie
dadurch sehr gedemüthigt werden; denn sie würde
sehen, daß diese Schmeichler aus eiteln, und ge-
meiniglich unanständigen Absichten, sehr flüchtige,
und zufällige Vorzüge an ihr bewundern, und daß
ein jedes Lob, welches man nur ihrer Schönheit
giebt, nichts anders, als ein stillschweigender Vor-
wurf ist, daß man sie in zehn Jahren, und viel-
leicht noch eher, mit Verachtung ansehen werde.
Mit einem Worte: Nur wir Mannspersonen sind

Schuld
O o 3

und Ehrenerklaͤrung.
oder ihrer Tugend. War es wohl anders moͤg-
lich, als daß Selinde ſich von Jugend auf ge-
woͤhnen mußte, zu glauben, der ganze Werth ei-
nes Frauenzimmers beſtehe in der Schoͤnheit, und
daß ſie Verſtand und Tugend, als einen ſehr ent-
behrlichen Nebenumſtand anſahe, da Mannsper-
ſonen, welche ſich das Recht anmaßen, vom Ver-
ſtande und von der Tugend zu urtheilen, davon
gegen ſie niemals, und nur einigemal gegen ihre
alte Mutter etwas erwaͤhnten? Daß ſie Klean-
tens Frau geworden iſt, das hat ſie weder ihrem
Verſtande, noch ihrer Tugend, ſondern bloß ihrer
reizenden Miene, und einem wohlgewaͤhlten An-
putze zu danken, welcher vor etlichen Jahren auf
einem Balle ihrem Manne ſo gefaͤhrlich war.
Noch itzt, da ihr Mann, welcher zu leben weis,
ſie, als ſeine Frau, weiter nicht liebt, noch itzt fin-
det man ſie von einer Menge Maͤnner, und unver-
heiratheter Mannsperſonen belagert, von denen
ſie weiter nichts, als Lobſpruͤche ihrer Schoͤnheit
hoͤrt. Verſtuͤnde Selinde dieſe eigennuͤtzigen
Schmeicheleyen der Mannsperſonen, ſo wuͤrde ſie
dadurch ſehr gedemuͤthigt werden; denn ſie wuͤrde
ſehen, daß dieſe Schmeichler aus eiteln, und ge-
meiniglich unanſtaͤndigen Abſichten, ſehr fluͤchtige,
und zufaͤllige Vorzuͤge an ihr bewundern, und daß
ein jedes Lob, welches man nur ihrer Schoͤnheit
giebt, nichts anders, als ein ſtillſchweigender Vor-
wurf iſt, daß man ſie in zehn Jahren, und viel-
leicht noch eher, mit Verachtung anſehen werde.
Mit einem Worte: Nur wir Mannsperſonen ſind

Schuld
O o 3
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[581[579]/0603] und Ehrenerklaͤrung. oder ihrer Tugend. War es wohl anders moͤg- lich, als daß Selinde ſich von Jugend auf ge- woͤhnen mußte, zu glauben, der ganze Werth ei- nes Frauenzimmers beſtehe in der Schoͤnheit, und daß ſie Verſtand und Tugend, als einen ſehr ent- behrlichen Nebenumſtand anſahe, da Mannsper- ſonen, welche ſich das Recht anmaßen, vom Ver- ſtande und von der Tugend zu urtheilen, davon gegen ſie niemals, und nur einigemal gegen ihre alte Mutter etwas erwaͤhnten? Daß ſie Klean- tens Frau geworden iſt, das hat ſie weder ihrem Verſtande, noch ihrer Tugend, ſondern bloß ihrer reizenden Miene, und einem wohlgewaͤhlten An- putze zu danken, welcher vor etlichen Jahren auf einem Balle ihrem Manne ſo gefaͤhrlich war. Noch itzt, da ihr Mann, welcher zu leben weis, ſie, als ſeine Frau, weiter nicht liebt, noch itzt fin- det man ſie von einer Menge Maͤnner, und unver- heiratheter Mannsperſonen belagert, von denen ſie weiter nichts, als Lobſpruͤche ihrer Schoͤnheit hoͤrt. Verſtuͤnde Selinde dieſe eigennuͤtzigen Schmeicheleyen der Mannsperſonen, ſo wuͤrde ſie dadurch ſehr gedemuͤthigt werden; denn ſie wuͤrde ſehen, daß dieſe Schmeichler aus eiteln, und ge- meiniglich unanſtaͤndigen Abſichten, ſehr fluͤchtige, und zufaͤllige Vorzuͤge an ihr bewundern, und daß ein jedes Lob, welches man nur ihrer Schoͤnheit giebt, nichts anders, als ein ſtillſchweigender Vor- wurf iſt, daß man ſie in zehn Jahren, und viel- leicht noch eher, mit Verachtung anſehen werde. Mit einem Worte: Nur wir Mannsperſonen ſind Schuld O o 3

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 581[579]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/603>, abgerufen am 23.11.2024.