Raphael, ein anderer Deucalion, hatte dasund wie er die Antiken nutzte. Vorrecht, Steine zu beleben. Er hatte lange die Natur studirt, und er verließ sie nicht, als er die An- tike zu Rathe zog. Die erste lieferte ihm Erfahrun- gen, die ihm das Ideal der letzteren bis zum Gefühl der Wahrheit und des Lebens nahe bringen konnten. Seine Einbildungskraft zeigte ihm den leblosen Mar- mor mit alle den Veränderungen, die die Seele, die er ihm einbließ, oder besser, die Fassung in die er ihn versetzte, auf einen organisirten Körper mit ähnli- chen Formen hätte hervorbringen können. Wenn er folglich dem Scheine nach copirte, so erhob er sich im Grunde nur von der Natur zum Ideal. Er verbes- serte sie durch einander, und sein Scharfsinn zeigte ihm genau den Punkt, wo beide zusammentrafen. Vielleicht ist hierin die Ursach zu suchen, warum wir in den Gemählden Raphaels selten die schönsten der antiken Statuen nachgeahmt finden: Warum er bei- nahe nie über das Gute hinaus ging. Er verzwei- felte daran, in der Natur seines Landes etwas zu fin- den, das ihm den Begriff der höchsten Schönheit bis zur belebenden Nachahmung hätte nahe bringen kön- nen; und um ihr nicht Wahrheit und Ausdruck auf- zuopfern, enthielt er sich lieber derselben ganz.
Möchten doch junge Künstler unserer Zeiten diese Grundsätze des größten ihrer Vorgänger beherzigen! Sie, die sich oft verführen lassen, durch einen colorir- ten Apollo oder Antinous ohne passenden Ausdruck eine unerträgliche Kälte in ihre Gemählde zu bringen; ohne den Abfall zu ersetzen, den jede Nachbildung selbst an Schönheit der äußeren Form leidet! Wahr-
heit
Der Vaticaniſche Pallaſt.
Raphael, ein anderer Deucalion, hatte dasund wie er die Antiken nutzte. Vorrecht, Steine zu beleben. Er hatte lange die Natur ſtudirt, und er verließ ſie nicht, als er die An- tike zu Rathe zog. Die erſte lieferte ihm Erfahrun- gen, die ihm das Ideal der letzteren bis zum Gefuͤhl der Wahrheit und des Lebens nahe bringen konnten. Seine Einbildungskraft zeigte ihm den lebloſen Mar- mor mit alle den Veraͤnderungen, die die Seele, die er ihm einbließ, oder beſſer, die Faſſung in die er ihn verſetzte, auf einen organiſirten Koͤrper mit aͤhnli- chen Formen haͤtte hervorbringen koͤnnen. Wenn er folglich dem Scheine nach copirte, ſo erhob er ſich im Grunde nur von der Natur zum Ideal. Er verbeſ- ſerte ſie durch einander, und ſein Scharfſinn zeigte ihm genau den Punkt, wo beide zuſammentrafen. Vielleicht iſt hierin die Urſach zu ſuchen, warum wir in den Gemaͤhlden Raphaels ſelten die ſchoͤnſten der antiken Statuen nachgeahmt finden: Warum er bei- nahe nie uͤber das Gute hinaus ging. Er verzwei- felte daran, in der Natur ſeines Landes etwas zu fin- den, das ihm den Begriff der hoͤchſten Schoͤnheit bis zur belebenden Nachahmung haͤtte nahe bringen koͤn- nen; und um ihr nicht Wahrheit und Ausdruck auf- zuopfern, enthielt er ſich lieber derſelben ganz.
Moͤchten doch junge Kuͤnſtler unſerer Zeiten dieſe Grundſaͤtze des groͤßten ihrer Vorgaͤnger beherzigen! Sie, die ſich oft verfuͤhren laſſen, durch einen colorir- ten Apollo oder Antinous ohne paſſenden Ausdruck eine unertraͤgliche Kaͤlte in ihre Gemaͤhlde zu bringen; ohne den Abfall zu erſetzen, den jede Nachbildung ſelbſt an Schoͤnheit der aͤußeren Form leidet! Wahr-
heit
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
Raphael, ein anderer Deucalion, hatte das
Vorrecht, Steine zu beleben. Er hatte lange die
Natur ſtudirt, und er verließ ſie nicht, als er die An-
tike zu Rathe zog. Die erſte lieferte ihm Erfahrun-
gen, die ihm das Ideal der letzteren bis zum Gefuͤhl
der Wahrheit und des Lebens nahe bringen konnten.
Seine Einbildungskraft zeigte ihm den lebloſen Mar-
mor mit alle den Veraͤnderungen, die die Seele, die
er ihm einbließ, oder beſſer, die Faſſung in die er
ihn verſetzte, auf einen organiſirten Koͤrper mit aͤhnli-
chen Formen haͤtte hervorbringen koͤnnen. Wenn er
folglich dem Scheine nach copirte, ſo erhob er ſich im
Grunde nur von der Natur zum Ideal. Er verbeſ-
ſerte ſie durch einander, und ſein Scharfſinn zeigte
ihm genau den Punkt, wo beide zuſammentrafen.
Vielleicht iſt hierin die Urſach zu ſuchen, warum wir
in den Gemaͤhlden Raphaels ſelten die ſchoͤnſten der
antiken Statuen nachgeahmt finden: Warum er bei-
nahe nie uͤber das Gute hinaus ging. Er verzwei-
felte daran, in der Natur ſeines Landes etwas zu fin-
den, das ihm den Begriff der hoͤchſten Schoͤnheit bis
zur belebenden Nachahmung haͤtte nahe bringen koͤn-
nen; und um ihr nicht Wahrheit und Ausdruck auf-
zuopfern, enthielt er ſich lieber derſelben ganz.
und wie er
die Antiken
nutzte.
Moͤchten doch junge Kuͤnſtler unſerer Zeiten dieſe
Grundſaͤtze des groͤßten ihrer Vorgaͤnger beherzigen!
Sie, die ſich oft verfuͤhren laſſen, durch einen colorir-
ten Apollo oder Antinous ohne paſſenden Ausdruck
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/147>, abgerufen am 22.11.2024.
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