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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.

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Villa Albani.

Aber wird man sagen: Der Künstler vereinige
beide Vorzüge in ihrer höchsten sichtbaren Vollkom-
menheit: er mahle den heil. Andreas Corsini so schön
als den Antinous: Der Bildhauer gebe dem Anti-
nous einen eben so interessanten Ausdruck als der
Mahler dem heil. Andreas Corsini gegeben hat. --
Kann er dies, so liegt seine Verbindlichkeit dazu aus-
ser Zweifel. In dieser Vereinigung liegt Schönheit,
nicht in vollkommener Gestalt allein, nicht in voll-
kommenem Ausdruck allein.

Wenn er es aber nun nicht kann: wenn seine
Kräfte, wenn die Gränzen seiner Kunst es nicht zu-
lassen? Wenn er nicht im gleichen Grade interessant
und schön seyn kann, wo soll das Summum, wo
das Minimum jeder Kunst liegen, soll er immer
mehr interessant, oder immer mehr schön seyn? Wol-
len wir lieber die Figur auf dem Gemählde mit Auf-
opferung des Bedeutungsvollen unter idealschönen
Formen, oder die Statue mit minder übereinstim-
menden Umrissen bedeutungsvoller sehen? Dies ist
die Frage, deren Beantwortung nur die Regel giebt:
Daß jede Kunst ihre eigenthümlichen Vorzüge und
ihre eigenthümlichen Mängel hat; daß sie daher
bei ihrer Annäherung zur sichtbaren Vollkommenheit
sich denjenigen Theil derselben vorzüglich vor Augen
setzen müsse, den sie am sichersten zu erreichen hoffen
darf. Dieser ist ihr Hauptzweck, der andere Neben-
zweck: und da wir ein Werk von sterblichen Händen
in der höchsten sichtbaren Vollkommenheit zu sehen
nicht hoffen dürfen, so nennen wir dasjenige schön,
was sich dem Hauptzweck am meisten nähert, ohne
sich von dem Nebenzweck am weitesten zu entfernen.

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C 2
Villa Albani.

Aber wird man ſagen: Der Kuͤnſtler vereinige
beide Vorzuͤge in ihrer hoͤchſten ſichtbaren Vollkom-
menheit: er mahle den heil. Andreas Corſini ſo ſchoͤn
als den Antinous: Der Bildhauer gebe dem Anti-
nous einen eben ſo intereſſanten Ausdruck als der
Mahler dem heil. Andreas Corſini gegeben hat. —
Kann er dies, ſo liegt ſeine Verbindlichkeit dazu auſ-
ſer Zweifel. In dieſer Vereinigung liegt Schoͤnheit,
nicht in vollkommener Geſtalt allein, nicht in voll-
kommenem Ausdruck allein.

Wenn er es aber nun nicht kann: wenn ſeine
Kraͤfte, wenn die Graͤnzen ſeiner Kunſt es nicht zu-
laſſen? Wenn er nicht im gleichen Grade intereſſant
und ſchoͤn ſeyn kann, wo ſoll das Summum, wo
das Minimum jeder Kunſt liegen, ſoll er immer
mehr intereſſant, oder immer mehr ſchoͤn ſeyn? Wol-
len wir lieber die Figur auf dem Gemaͤhlde mit Auf-
opferung des Bedeutungsvollen unter idealſchoͤnen
Formen, oder die Statue mit minder uͤbereinſtim-
menden Umriſſen bedeutungsvoller ſehen? Dies iſt
die Frage, deren Beantwortung nur die Regel giebt:
Daß jede Kunſt ihre eigenthuͤmlichen Vorzuͤge und
ihre eigenthuͤmlichen Maͤngel hat; daß ſie daher
bei ihrer Annaͤherung zur ſichtbaren Vollkommenheit
ſich denjenigen Theil derſelben vorzuͤglich vor Augen
ſetzen muͤſſe, den ſie am ſicherſten zu erreichen hoffen
darf. Dieſer iſt ihr Hauptzweck, der andere Neben-
zweck: und da wir ein Werk von ſterblichen Haͤnden
in der hoͤchſten ſichtbaren Vollkommenheit zu ſehen
nicht hoffen duͤrfen, ſo nennen wir dasjenige ſchoͤn,
was ſich dem Hauptzweck am meiſten naͤhert, ohne
ſich von dem Nebenzweck am weiteſten zu entfernen.

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[35/0049] Villa Albani. Aber wird man ſagen: Der Kuͤnſtler vereinige beide Vorzuͤge in ihrer hoͤchſten ſichtbaren Vollkom- menheit: er mahle den heil. Andreas Corſini ſo ſchoͤn als den Antinous: Der Bildhauer gebe dem Anti- nous einen eben ſo intereſſanten Ausdruck als der Mahler dem heil. Andreas Corſini gegeben hat. — Kann er dies, ſo liegt ſeine Verbindlichkeit dazu auſ- ſer Zweifel. In dieſer Vereinigung liegt Schoͤnheit, nicht in vollkommener Geſtalt allein, nicht in voll- kommenem Ausdruck allein. Wenn er es aber nun nicht kann: wenn ſeine Kraͤfte, wenn die Graͤnzen ſeiner Kunſt es nicht zu- laſſen? Wenn er nicht im gleichen Grade intereſſant und ſchoͤn ſeyn kann, wo ſoll das Summum, wo das Minimum jeder Kunſt liegen, ſoll er immer mehr intereſſant, oder immer mehr ſchoͤn ſeyn? Wol- len wir lieber die Figur auf dem Gemaͤhlde mit Auf- opferung des Bedeutungsvollen unter idealſchoͤnen Formen, oder die Statue mit minder uͤbereinſtim- menden Umriſſen bedeutungsvoller ſehen? Dies iſt die Frage, deren Beantwortung nur die Regel giebt: Daß jede Kunſt ihre eigenthuͤmlichen Vorzuͤge und ihre eigenthuͤmlichen Maͤngel hat; daß ſie daher bei ihrer Annaͤherung zur ſichtbaren Vollkommenheit ſich denjenigen Theil derſelben vorzuͤglich vor Augen ſetzen muͤſſe, den ſie am ſicherſten zu erreichen hoffen darf. Dieſer iſt ihr Hauptzweck, der andere Neben- zweck: und da wir ein Werk von ſterblichen Haͤnden in der hoͤchſten ſichtbaren Vollkommenheit zu ſehen nicht hoffen duͤrfen, ſo nennen wir dasjenige ſchoͤn, was ſich dem Hauptzweck am meiſten naͤhert, ohne ſich von dem Nebenzweck am weiteſten zu entfernen. Mehr C 2

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/49>, abgerufen am 30.04.2024.