Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite
Pallast

Das Genie, das die Kunst aufnimmt, wenn sie
das Alter der Kindheit verlassen hat, fürchtet noch
keine Vergleichung, keinen bestimmten Geschmack,
keine festgesetzte Begriffe über Wahrscheinlichkeit unter
seinen Zeitgenossen. Findet es wie Raphael, daß
Zeichnung und Ausdruck die Wege sind, von der
Darstellung eines lebenden Wesens zu überzeugen, es
geht ihnen nach: sieht es wie Correggio den Zauber
der Harmonie und des Helldunkeln für die würksam-
sten Ueberredungsmittel an, es ergreift sie: und hält
es endlich, wie Tizian, die Färbung für den wesent-
lichen Theil der Nachahmung; gut! so wendet es alle
seine Kräfte an, sich diesen zu eigen zu machen. Es
liefert mithin die Gegenstände, wie es sie sieht, und
da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt,
im Wahrnehmen vorgeht, so leitet es dessen Auge
nach Gefallen.

Nicht so der Nachfolger, und würde er ein Ra-
phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen
aufs neue gebohren, er kann nicht sie seyn, weil er
nach ihnen kömmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt,
die Sicherheit, die Freiheit seiner eigenen Anschau-
ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der
Form am meisten auf, aber weil er in Venedig wohnt,
so muß er seine Kräfte aufs Colorit wenden: Er fühlt
wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie
Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß
derjenige, der einen bestimmten Stil vor sich
sieht, der schon Glück gemacht hat, nur mit der äus-
sersten Aengstlichkeit einen andern wählen dürfe, der
nur ihm der wahre scheint; einen Stil, der, wenn er
auch der wahre seyn sollte, in einer Kunst, deren Wahr-

heit
Pallaſt

Das Genie, das die Kunſt aufnimmt, wenn ſie
das Alter der Kindheit verlaſſen hat, fuͤrchtet noch
keine Vergleichung, keinen beſtimmten Geſchmack,
keine feſtgeſetzte Begriffe uͤber Wahrſcheinlichkeit unter
ſeinen Zeitgenoſſen. Findet es wie Raphael, daß
Zeichnung und Ausdruck die Wege ſind, von der
Darſtellung eines lebenden Weſens zu uͤberzeugen, es
geht ihnen nach: ſieht es wie Correggio den Zauber
der Harmonie und des Helldunkeln fuͤr die wuͤrkſam-
ſten Ueberredungsmittel an, es ergreift ſie: und haͤlt
es endlich, wie Tizian, die Faͤrbung fuͤr den weſent-
lichen Theil der Nachahmung; gut! ſo wendet es alle
ſeine Kraͤfte an, ſich dieſen zu eigen zu machen. Es
liefert mithin die Gegenſtaͤnde, wie es ſie ſieht, und
da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt,
im Wahrnehmen vorgeht, ſo leitet es deſſen Auge
nach Gefallen.

Nicht ſo der Nachfolger, und wuͤrde er ein Ra-
phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen
aufs neue gebohren, er kann nicht ſie ſeyn, weil er
nach ihnen koͤmmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt,
die Sicherheit, die Freiheit ſeiner eigenen Anſchau-
ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der
Form am meiſten auf, aber weil er in Venedig wohnt,
ſo muß er ſeine Kraͤfte aufs Colorit wenden: Er fuͤhlt
wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie
Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß
derjenige, der einen beſtimmten Stil vor ſich
ſieht, der ſchon Gluͤck gemacht hat, nur mit der aͤuſ-
ſerſten Aengſtlichkeit einen andern waͤhlen duͤrfe, der
nur ihm der wahre ſcheint; einen Stil, der, wenn er
auch der wahre ſeyn ſollte, in einer Kunſt, deren Wahr-

heit
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0164" n="140"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Palla&#x017F;t</hi> </fw><lb/>
        <p>Das Genie, das die Kun&#x017F;t aufnimmt, wenn &#x017F;ie<lb/>
das Alter der Kindheit verla&#x017F;&#x017F;en hat, fu&#x0364;rchtet noch<lb/>
keine Vergleichung, keinen be&#x017F;timmten Ge&#x017F;chmack,<lb/>
keine fe&#x017F;tge&#x017F;etzte Begriffe u&#x0364;ber Wahr&#x017F;cheinlichkeit unter<lb/>
&#x017F;einen Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en. Findet es wie Raphael, daß<lb/>
Zeichnung und Ausdruck die Wege &#x017F;ind, von der<lb/>
Dar&#x017F;tellung eines lebenden We&#x017F;ens zu u&#x0364;berzeugen, es<lb/>
geht ihnen nach: &#x017F;ieht es wie Correggio den Zauber<lb/>
der Harmonie und des Helldunkeln fu&#x0364;r die wu&#x0364;rk&#x017F;am-<lb/>
&#x017F;ten Ueberredungsmittel an, es ergreift &#x017F;ie: und ha&#x0364;lt<lb/>
es endlich, wie Tizian, die Fa&#x0364;rbung fu&#x0364;r den we&#x017F;ent-<lb/>
lichen Theil der Nachahmung; gut! &#x017F;o wendet es alle<lb/>
&#x017F;eine Kra&#x0364;fte an, &#x017F;ich die&#x017F;en zu eigen zu machen. Es<lb/>
liefert mithin die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, wie es &#x017F;ie &#x017F;ieht, und<lb/>
da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt,<lb/>
im Wahrnehmen vorgeht, &#x017F;o leitet es de&#x017F;&#x017F;en Auge<lb/>
nach Gefallen.</p><lb/>
        <p>Nicht &#x017F;o der Nachfolger, und wu&#x0364;rde er ein Ra-<lb/>
phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen<lb/>
aufs neue gebohren, er kann nicht &#x017F;ie &#x017F;eyn, weil er<lb/>
nach ihnen ko&#x0364;mmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt,<lb/>
die Sicherheit, die Freiheit &#x017F;einer eigenen An&#x017F;chau-<lb/>
ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der<lb/>
Form am mei&#x017F;ten auf, aber weil er in Venedig wohnt,<lb/>
&#x017F;o muß er &#x017F;eine Kra&#x0364;fte aufs Colorit wenden: Er fu&#x0364;hlt<lb/>
wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie<lb/>
Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß<lb/>
derjenige, der einen be&#x017F;timmten Stil vor &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;ieht, der &#x017F;chon Glu&#x0364;ck gemacht hat, nur mit der a&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er&#x017F;ten Aeng&#x017F;tlichkeit einen andern wa&#x0364;hlen du&#x0364;rfe, der<lb/>
nur ihm der wahre &#x017F;cheint; einen Stil, der, wenn er<lb/>
auch der wahre &#x017F;eyn &#x017F;ollte, in einer Kun&#x017F;t, deren Wahr-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">heit</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0164] Pallaſt Das Genie, das die Kunſt aufnimmt, wenn ſie das Alter der Kindheit verlaſſen hat, fuͤrchtet noch keine Vergleichung, keinen beſtimmten Geſchmack, keine feſtgeſetzte Begriffe uͤber Wahrſcheinlichkeit unter ſeinen Zeitgenoſſen. Findet es wie Raphael, daß Zeichnung und Ausdruck die Wege ſind, von der Darſtellung eines lebenden Weſens zu uͤberzeugen, es geht ihnen nach: ſieht es wie Correggio den Zauber der Harmonie und des Helldunkeln fuͤr die wuͤrkſam- ſten Ueberredungsmittel an, es ergreift ſie: und haͤlt es endlich, wie Tizian, die Faͤrbung fuͤr den weſent- lichen Theil der Nachahmung; gut! ſo wendet es alle ſeine Kraͤfte an, ſich dieſen zu eigen zu machen. Es liefert mithin die Gegenſtaͤnde, wie es ſie ſieht, und da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt, im Wahrnehmen vorgeht, ſo leitet es deſſen Auge nach Gefallen. Nicht ſo der Nachfolger, und wuͤrde er ein Ra- phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen aufs neue gebohren, er kann nicht ſie ſeyn, weil er nach ihnen koͤmmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt, die Sicherheit, die Freiheit ſeiner eigenen Anſchau- ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der Form am meiſten auf, aber weil er in Venedig wohnt, ſo muß er ſeine Kraͤfte aufs Colorit wenden: Er fuͤhlt wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß derjenige, der einen beſtimmten Stil vor ſich ſieht, der ſchon Gluͤck gemacht hat, nur mit der aͤuſ- ſerſten Aengſtlichkeit einen andern waͤhlen duͤrfe, der nur ihm der wahre ſcheint; einen Stil, der, wenn er auch der wahre ſeyn ſollte, in einer Kunſt, deren Wahr- heit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/164
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/164>, abgerufen am 21.11.2024.